Film „Privileg“: Wie sich Transmann Henri Vogel neu erfunden hat
Wenn die sexuelle Identität zum Motor für politisches Engagement wird: Der Dokumentarfilm „Privileg“ porträtiert den Transmann, Queer-Aktivisten und Forscher Henri Vogel. Es ist ein Vermächtnis.
déià-vu Film
Henri Vogel (1983-2024) hat sich für die Rechte von Transmenschen in Deutschland eingesetzt.
Wenn Henri Vogel nur in Badehose bekleidet in einen See steigt, wirkt dies auf den ersten Blick wie selbstverständlich. Tatsächlich dokumentiert die Szene einen Prozess der Emanzipation. Die unterhalb seiner Brust verlaufenden Narben sind gut zu erkennen. Es sind die Spuren einer Operation, die mit dazu beigetragen hat, ihm auf körperlicher Ebene den Weg in ein neues Leben zu bahnen.
Geschlechtsanpassung als Befreiung
Vogel wuchs mit körperlichen Merkmalen auf, die ihn als Frau definierten. Seine weiblichen Geschlechtsmerkmale betrachtete er mit Scham. Erst als Transmann gelang es ihm, seinen Körper ohne Beklemmung in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Indem sie das Entfernen des Busens bezeugen, wirken die Narben fast wie eine Trophäe, die für eine radikale Lebenswende hin zum Besseren stehen.
Wie sehr Vogel von dieser Zäsur und dem damit verbundenen Bewusstsein, endlich sein „echtes Leben“ zu führen, zehrt, macht der Dokumentarfilm „Privileg“ deutlich. Der Titel bringt auf den Punkt, wie Vogel sich und seine Existenz definiert. „Trans zu sein bedeutet, diskriminiert zu werden, erniedrigt und ferngesteuert“, sagt Vogel vor der Kamera. „Andererseits bedeutet es, mich selbst zu erfinden, mir selbst einen neuen Namen zu geben und zu sein, wer ich bin. Das ist ein Privileg.“
„Privileg“ betrachtet dieses Leben aus verschiedenen Blickwinkeln. In einer Langzeitperspektive wird erzählt, wie sich eine Geschlechtsangleichung anfühlen kann.
Viele Fragen und ein Protagonist
Weitere Erzählstränge drehen sich unter anderem um diese Fragen: Welche Herausforderungen sind dabei zu bewältigen? Wie blickt die Gesellschaft auf Transpersonen? Was bedeuten Coming Out und Transition für eine Partnerschaft? Anders gesagt: Es geht um die Mikro- und Makroperspektive auf ein sehr komplexes Thema.
Im Mittelpunkt der viele Facetten streifenden Erzählung steht Vogel, der Antworten auf all die grundsätzlichen Fragen zum Leben als Transmensch gibt. Immer wieder blickt er auf sich und das große Ganze. Seine akademische Ausbildung und seine Erfahrungen als gesellschaftspolitischer Aktivist drücken seinen Aussagen einen deutlichen Stempel, auf, ohne dabei Persönliches in den Hintergrund zu drängen.
Vogel (Jahrgang 1983) wächst in Sachsen auf, wo er in den Nullerjahren Betriebswirtschaft und Ingenieurwissenschaften studiert. In diese Zeit fällt die Hochzeit mit Ehemann Johannes. Während seines zweiten Studiums der Theologie und Literaturwissenschaften wird Henri klar, dass er sich wie ein Mann fühlt und fortan so leben will. Nach seinem Coming-Out engagiert er sich von Berlin aus in politischen Parteien und Initiativen, die für die Rechte der LGBTIQIA+ eintreten, unter anderem auch in der Arbeitsgemeinschaft SPDqueer. Seit dem Jahr 2015 lebt Vogel offiziell als Mann.
Im Dialog mit einer transgeschlechtliche Kommandeurin
„Privileg“ begleitet Vogel und seinen Mann durch ihren gemeinsamen Alltag in Berlin. Zu sehen sind auch Aufnahmen vergangener CSD-Paraden. Beide Bildebenen bilden den szenischen Rahmen für Vogels Reflektionen, die er allein oder im Dialog mit anderen anstellt. Darunter ist auch Anastasia Biefang. Also jene Transfrau, die als erste offen transgeschlechtliche Kommandeurin der Bundeswehr dient und ihrerseits im Mittelpunkt des Dokumentarfilms „Ich bin Anastasia“ stand.
Diese Dialogszenen tun dem Film gut, sie sorgen für argumentative Reibung und bringen Vogel dazu, deutlich Position zu beziehen. Für einige seiner Monologe gilt hingegen, dass weniger mehr gewesen wäre. Zwar spricht die keinesfalls selbstverliebte, sondern sehr reflektierte Debattierlust für ihn, allerdings schweift er oft ab, sodass man manchen Gedankengängen irgendwann kaum noch folgen kann oder mag und ein Reingrätschen des Interviewers wünschenswert gewesen wäre.
Immer wieder wird es politisch. Vogel erklärt, warum es tragfähige politische Strukturen für Transmenschen und eine echte Lobby für ihre Interessen braucht. Damit trifft er auch ein Urteil dazu, wie diese Gesellschaft mit Vielfalt umgeht. Nur am Rande spielt das im vergangenen Jahr auf Initiative der Ampel-Koalition verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz eine Rolle, das zumindest Erleichterungen bei der amtlichen Änderung des Geschlechts Erleichterungen gebracht hat.
Eine Stimme für Transmenschen
Indem vieles unwidersprochen und unhinterfragt bleibt, wirkt dieser Film über weite Strecken wie ein Vermächtnis. Und ein solcher ist er auf tragische Weise tatsächlich auch geworden. Im vergangenen Jahr ist Henri Vogel bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seine Worte als kritischer, aber letztendlich optimistischer Mahner in Sachen Selbstbestimmung und Gleichberechtigung werden bleiben. Auch dank Ali Schmahls Langfilmdebüt, das Transmenschen und anderen queeren Communities eine Stimme geben will.
„Privileg“ (Deutschland 2024), ein Film von Ali Schmahl, mit Henri Vogel, Johannes Vogel, Anastasia Biefang u.a., 80 Minuten
Im Kino. Weitere Informationen unter dejavu-film.de