Kultur

Film „Das kostbarste aller Güter“: Es war einmal die Menschlichkeit

Während der Zeit des Holocausts retten zwei arme Waldbewohner*innen ein jüdisches Baby. Der französisch-belgische Animationsfilm „Das kostbarste aller Güter“ ist von märchenhafter Gestalt, doch seine moralische Botschaft ist tief in der Realität verankert.

von Nils Michaelis · 7. März 2025
Szene aus "Das kostbarste aller Güter"
Die Holzfällerfrau trägt das Kind durch den schneebedeckten Wald.

Ein tief verschneiter Wald irgendwo im Polen des Jahres 1943. Zwischen den umherwirbelnden Schneeflocken ist das Bahngleis kaum zu erkennen. Neben den Schienen irrt eine mit Tüchern verhüllte Frau umher, weil sie etwas sucht. Kurz zuvor hat sie ein Wimmern gehört, das nur von einem Baby stammen kann. Als sie es endlich gefunden hat, trägt sie das Bündel in ihre ärmliche Hütte, die sie mit ihrem Mann, einem Holzfäller, bewohnt. 

Eine Familie im Zug nach Auschwitz

Ab diesem Moment bleibt in dem Leben des Ehepaares nichts so wie es war. Denn das kleine Wesen, das ihnen entgegenstrahlt, entstammt einer jüdischen Familie. Auf dem Weg ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau warfen die Eltern ihre wenige Monate alte Tochter aus dem Zug. Es war ein verzweifelter Rettungsakt.

Der Animationsfilm „Das kostbarste aller Güter“ erzählt von der Zeit des Holocaust, ohne ein Film über den Holocaust zu sein. Vielmehr dient der millionenfache Mord an Menschen jüdischen Glaubens als Rahmen für eine Geschichte, hinter der ein zeitloses und zugleich höchst aktuelles Anliegen steht: der Appell an Menschlichkeit und Liebe.

Ein Märchen voll trauriger Realität

Diesen geistigen und moralischen Impetus hat der französische Filmemacher Michel Hazanavicius („Die Suche“)mit dem Gewand eines Märchens umgeben. In seiner Adaption des gleichnamigen Jugendbuches von Jean-Claude Grumberg bleibt einiges zunächst geheimnisvoll, bevor sich die Dramatik und Tragik der Geschichte voll entfaltet und uns deren tiefere Wahrheit vor Augen tritt. 

Neben dieser Erzählweise erinnert auch die Szenerie an Werke der Brüder Grimm und Co.: In dem dunklen Wald, wo die nun dreiköpfige Familie lebt, lauern Gefahren, doch es gibt auch unverhoffte Lichtblicke. Dieser mit reichlich Metaphorik versehene Raum wird nur selten verlassen. Etwa auf der zweiten Erzählebene, wo gezeigt wird, was aus den Angehörigen der Kleinen geworden ist. 

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„Das kostbarste aller Güter“ lebt von großen Emotionen: Etwa, wenn wir sehen, was die Eheleute alles auf sich nehmen, um das Kind über den harten Winter zu retten und wie eine tiefe Beziehung zwischen dem Baby und seinen Ersatzeltern entsteht. 

Auf der anderen Seite spielt Distanz eine wichtige Rolle. Nicht nur in der besagten Szene am Gleis dauert es eine Weile, bis man sich im wahrsten Sinne ein Bild von einer Situation macht, weil optische Effekte wie ein Schleier oder Filter funktionieren. Ähnlich ist es mit den auftretenden Figuren: Vieles an ihrer äußeren Gestalt bleibt skizzenhaft und es ist an der Fantasie der Zuschauenden, mehr darin und daran zu entdecken. 

Die Macht von Vorurteilen brechen

Diesen Weg hat Hazanavicius bewusst gewählt. „Je weniger man zeigt, je mehr man andeutet, desto mehr nimmt der Zuschauer auch aktiv an der Erzählung teil, weil man an seine Vorstellungskraft appelliert“, sagt er laut Presseheft über das Vorgehen in seinem ersten Animationsfilm. „So bestimmt der Zuschauer, wie stark er sich auch emotional einbringen möchte.“

Typisch für Märchen sind zudem metaphorisch aufgeladene Begriffe und mythische Wesen. Auch diese Facetten werden stimmig aufgegriffen. So werden Jüd*innen ausschließlich „Herzlose“ genannt, denen bestimmte Eigenschaften zugewiesen werden. Und die Holzfällersfrau führt ihr spätes Babyglück auf die Gnade der „Götter der Züge“ zurück, die ihr Flehen endlich erhört haben. 

Die gefährliche Macht der Vorurteile

Somit handelt der Film auch von der Macht von Vorurteilen. Davon, welchen Schaden sie anrichten. Aber auch davon, dass es gilt, sie zu überwinden. Und dass dies möglich ist. Demgegenüber kehren einige Handelnde das Übelste in sich hervor.

Dass der vergangenes Jahr im Wettbewerb von Cannes gezeigte Film ausgerechnet den realen Horror der Shoa als Kulisse für ein auf Hoffnung setzendes Märchen verwendet, mag im ersten Moment irritieren. Jedoch entfaltet diese weitgehend recht simpel gestrickte Geschichte über das Gute im Menschen eine enorme Kraft, ohne dabei zu dick aufzutragen. 

Die keinesfalls auf Belehrung setzende Botschaft tritt dem Publikum glasklar entgegen. Dies könnte ein guter Weg sein, um nicht nur, aber gerade ein jüngeres Publikum die Bedeutung eines solidarischen und demokratischen Miteinanders aufzuzeigen.

 „Das kostbarste aller Güter“ (Frankreich, Belgien 2024), ein Film von Hazanavicius, deutsche Erzählerstimme: Jürgen Prochnow, 81 Minuten, FSK: ab zwölf Jahre.

Im Kino. Weitere Infos unter studiocanal.de

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