Kultur

Dokumentarfilm „Wo/Men“: Warum Frauen in Albanien als Mann leben

Sie geben sich „anders“ und folgen dennoch einer alten Tradition: Burrneshas sind Frauen, die als Mann leben. Der Dokumentarfilm „Wo/Men“ beleuchtet verborgene Seiten der Gesellschaft in Albanien und will dazu ermutigen, Geschlechterklischees zu hinterfragen.

von Nils Michaelis · 7. Mai 2025
Szene aus dem Dokumentarfilm "Wo/Men"

Ihr Äußeres ist ein Statement: Sanie Vatoci hat sich für das Lebensmodell einer Burrnesha entschieden.

Wenn Sanie Vatoci zu ihrer Friseurin geht, lässt sie sich einen, wie sie selbst sagt, „Herrenhaarschnitt“ machen. Die Bestellung gibt sie mit einem Schmunzeln auf, doch sie ist Ausdruck einer weitreichenden Lebensentscheidung. Als die aus Albanien stammende Frau drei Jahre alt war, begann ihr Vater, sie wie einen Jungen zu behandeln. Weil es keinen Bruder gab, wuchs das Mädchen in die Rolle eines imaginären Sohnes hinein. Sie ließ sich darauf ein, fand daran Gefallen und wurde eine Burrnesha: also eine Frau, die als Mann lebt. Nicht im Sinne einer sexuellen Identität, sondern im Hinblick auf ihren Platz im sozialen Gefüge.

Aus Töchtern werden Söhne

Seit dem Mittelalter gibt es diese Tradition in Albanien. Fehlen in einer Familie männliche Nachkommen und damit die „Versorger“, werden häufig Töchter für diesen Part herangezogen und damit zu einer Burrnesha. Manche wählen diesen Weg aus freien Stücken, um so den patriarchalischen Strukturen, für die Zwangsehen und Bevormundung stehen, zu entkommen. Weil sie ein Keuschheitsgelübde ablegen müssen und keine eigene Familie gründen können, werden sie auch als „Schwurjungfrauen“ bezeichnet. Gerade im ländlichen Albanien ist diese Tradition bis heute lebendig, doch auch dort stirbt sie langsam aus. Laut Schätzungen gab es zuletzt noch etwa 40 Burrneshas.

Sechs von ihnen stellt der Dokumentarfilm „Wo/Men“ vor. Vor der Kamera legen sie Zeugnis über ihren Lebensweg ab und beschreiben ihren Alltag. Sie gewähren Einblicke in ihre Entscheidungen und sprechen über Freiheit, Unterdrückung und den Wunsch, selbst zu bestimmen, wie sie leben. In ihren Geschichten werden die nicht nur in Albanien noch immer sehr mächtigen Geschlechterstereotype hinterfragt. Häufig schwingt darin der Appell mit, den Einsatz für Frauenrechte weltweit zu verstärken. Bilder von feministischen Protesten und Kunstaktionen in Albanien spinnen diesen Faden weiter.

Ein Leben voller Widersprüche

Einige Protagonistinnen sind in den sogenannten besten Jahren, andere bereits hochbetagt. Daher spiegeln sich in den Gesprächssequenzen Prägungen aus verschiedenen Milieus und Generationen wider. Gemein ist ihnen die Erfahrung, einerseits trotz ihres „Andersseins“ einer Tradition zu folgen und andererseits entgegen der sogenannten Norm der Geschlechter zu leben. Und sei es nur durch ihre betont „maskuline“ Kleidung. Viele Widersprüche oder Reibungspunkte liegen aber viel tiefer. Ihnen gingen die deutschen Filmemacherinnen Kristine Nrecaj und Birthe Templin nach.

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Besonders gut gelang dies bei Sanie Vatoci. Durch ihre Entscheidung hatte die heute etwa 60-Jährige Möglichkeiten, die anderen Frauen aus ihrer Umgebung verwehrt blieben: Sie machte eine Ausbildung „zum Koch“ (so ihre Selbstbeschreibung), verließ ihr Zuhause und lebt heute in den USA. 

Ihre im Wortsinn Grenzen überschreitende Biografie drückt sich auch in der Rückschau auf ihr Leben aus. Mehr als bei allen anderen Interviewpartnerinnen findet sich darin Raum für Selbstzweifel und auch für die Frage, ob sie im Leben etwas verpasst haben könnte. Andere Erzählungen bleiben dagegen oft kryptisch.

Verschlossene Sphären der albanischen Gesellschaft

„Wo/Men“ öffnet den Blick für weithin unbekannte und oftmals auch verschlossene Sphären der albanischen Gesellschaft. Dass die Familie von Kristine Nrecaj albanische Wurzeln hat (eine ihrer Großtanten lebte als Burrnesha), habe während der Produktion so manche Tür geöffnet, lässt sie im Presseheft wissen.

Zugleich lebt der Film von einer großen Empathie für die auftretenden Personen. Diese drückt sich auch in den langen Einstellungen und in einem ruhigen Erzählfluss aus. Fallen die Wortbeiträge mitunter auch etwas mager aus, meint man in den vom Leben gezeichneten Gesichtern Geschichten hinter den Geschichten zu erkennen.

Mitunter würde man sich allerdings einen deutlicheren roten Faden wünschen. Auch noch so atmosphärische Bilder können nicht die inhaltlichen Leerstellen füllen, von denen es einige gibt. Auch wäre es wünschenswert gewesen, die biografischen Hintergründe der Burrneshas präziser zu beleuchten und anschaulicher zu machen, zum Beispiel in Form eines Off-Textes. Dennoch hinterlässt „WoMen“ unterm Strich einen bleibenden Eindruck. 

„Wo/Men“ (Deutschland 2024), ein Film von Kristine Nrecaj und Birthe Templin, OmU, 84 Minuten.

Kinostart: 14. Mai. Weitere Infos unter missingfilms.de

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