Dokumentarfilm „unten“: „Jede Ortsvereinssitzung ist ein Kammerspiel“
Für seinen Dokumentarfilm „unten“ hat Jan-Christoph Schultchen die SPD-Basis in Hamburg-Bergedorf über mehrere Monate begleitet. Im Interview sagt Schultchen, warum die Ortsvereine für die SPD so wichtig sind und welche Rolle Weihnachtsfeiern für die politische Arbeit spielen.
Jan-Christoph Schultchen
Sitzung der SPD Hamburg-Bergedorf mit Kamera-Begleitung: Im Ortsverein bekommt man ein Gefühl dafür, wie die Gesellschaft tickt.
Rund 10.000 Ortsvereine hat die SPD bundesweit. Sie bilden die sogenannte Basis, also die unterste Organisationseinheit der Partei vor Ort. In manchen Ortsvereinen ist nur eine Hand voll Mitglieder organisiert, in anderen mehrere hundert. Filmemacher und SPD-Mitglied Jan-Christoph Schultchen hat die SPD in Hamburg-Bergedorf über mehrere Monate mit der Kamera begleitet. Daraus entstanden ist der 80-minütige Dokumentarfilm „unten“. Am 6. November kommt er in die Kinos. Ortsvereine, die eine eigene Veranstaltung mit dem Film planen, können sich an „Barnsteiner Film“ wenden. (dispo@barnsteiner-film.de)
Welche Bedeutung haben die Ortsvereine für die SPD?
Die Ortsvereine sind extrem wichtig – für die SPD, aber vor allem auch für das politische Leben vor Ort. Die Menschen, die dort aktiv sind, stellen ja die Politiker für die kommunale Selbstverwaltung, also für Orts- und Stadträte sowie Kreistage. Ohne sie würde nichts laufen. Gleichzeitig müssen die Ortsvereine aufpassen, dass sie nicht nur als Rekrutierungsbecken für die Fraktionen dienen. Leider ist das immer häufiger der Fall, weil es immer weniger Menschen gibt, die sich in einer Partei engagieren wollen. Das Entwickeln von Konzepten und Visionen gerät aber schnell unter die Räder, wenn man nur noch über den Durchmesser von Rohren oder die Beschaffenheiten von Straßenbelägen spricht. Viele sind ja deshalb in der SPD, weil sie sich für etwas abstraktere Dinge wie Gerechtigkeit einsetzen wollen. Das geht aber schnell im politischen Tagesgeschäft unter. Nicht zuletzt beginnen aber auch die meisten politischen Karrieren im Ortsverein.
Für Ihre Dokumentation „unten“ haben Sie die SPD im Kreis Bergedorf in Hamburg über mehrere Monate begleitet. Ist das, was die Partei da macht, wirklich filmreif?
Unbedingt! Der Film dokumentiert zwar, was die SPD in Bergedorf, also auf der untersten Ebene, macht, aber er zeigt vor allem, wie wichtig es ist, sich politisch zu engagieren, dass man bereit sin muss, seine Erfahrungen und Expertise einzubringen, um die Demokratie mit Leben zu füllen. Jede Sitzung ist ein Kammerspiel, manchmal spielen sich dort regelrechte Dramen ab. Im Ortsverein bekommt man aber auch ein Gefühl dafür, wie die Gesellschaft tickt und wie der Staat funktioniert. Es wird um Positionen gerungen, es müssen Kompromisse gefunden werden. All das passiert im Ortsverein. Insofern ist er ein Abbild der Gesellschaft im Kleinen. Und manchmal gibt es auch ein richtiges Happy End, wenn zum Beispiel der Antrag eines Ortsvereins auf dem Bundesparteitag beschlossen wird. Auch das habe ich schon erlebt.
Jan-Christoph
Schultchen
Bei Weihnachtsfeiern oder beim gemeinsamen Grillen wird häufig auch die Grundlage für politische Entscheidungen gelegt.
Was bewegt Menschen, sich im SPD-Ortsverein zu engagieren?
Das sind meist lokale Themen – der Erhalt des Hallenbades oder der Ausbau einer Schule. Der Distrikt Lohbrügge, einer von sechs Distrikten im Kreis Bergedorf, (Ortsvereine heißen in Hamburg Distrikte, Anm.d.Red.) ist auch in gewisser Weise eine Ausnahme. Die SPD gewinnt dort jede Wahl und ich habe sehr gestaunt, dass eigentlich bei jeder Sitzung Parteibücher an neue Mitglieder ausgegeben werden. Das ist sicher nicht in jedem Ortsverein so.
Warum haben Sie sich für Ihren Film gerade für die SPD in Bergedorf entschieden?
Das hatte mehrere Gründe. Zum einen wohne ich nicht weit weg, wenn auch jenseits der Stadtgrenze von Hamburg. Ich konnte also sehr schnell mit der Kamera vor Ort sein, auch bei spontanen Aktionen. Zum anderen war mir der Distrikt Lohbrügge aber auch empfohlen worden, weil er einer der aktivsten ist. Ich wollte ja gern die diversen Aktivitäten filmen und keinen Ortsverein im Niedergang, wo kaum noch Parteileben stattfindet und niemand mehr Wahlkampf macht, weil die Mitglieder zu alt sind, um zum Plakatieren auf die Leiter zu steigen. Auch das gibt es ja leider immer häufiger.
Im Film zeigen Sie nicht nur die politische Arbeit, sondern auch Weihnachtsfeiern und ein Boßel-Turnier. Welche Rolle spielt dieses Parteileben im Ortsverein?
Aus meiner Sicht spielt das die allergrößte Rolle überhaupt. Es geht dabei nämlich nicht nur um soziale Aspekte. Bei Weihnachtsfeiern oder beim gemeinsamen Grillen wird häufig auch die Grundlage für politische Entscheidungen gelegt. Zwar werden auf Sitzungen Anträge beschlossen und Wahlprogramme abgestimmt, aber die Ideen dafür entstehen meist im informellen Rahmen, wenn man beim Bier zusammensitzt oder bei Kaffee du Kuchen. Da wird auch anders miteinander gesprochen, weil man sich nicht an Vorgaben wie eine Redeliste oder ähnliches halten muss. Das klassische Parteileben, da passiert es!
Jan-Christoph
Schultchen
Entscheidend für die Attraktivität der SPD ist, dass sie sich insgesamt treu bleibt.
In Bergedorf scheint die sozialdemokratische Welt noch ziemlich in Ordnung zu sein. Insgesamt hat die SPD aber seit Jahren mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen. Was kann sie dagegen tun?
Bergedorf und auch Hamburg sind sicher speziell. Die SPD ist in der Stadt ja Regierungspartei und wenn Wahlkampf ist, dann ist Hamburg rot. Die Partei kann unglaublich gut mobilisieren, ist sehr präsent und damit auch attraktiv. Auf dem Land drumherum sieht das schon ganz anders aus. In Wentorf, wo ich aktiv bin, ist die SPD eine Kleinpartei. Nur die FDP ist hier noch schwächer. Hier neue Mitglieder zu gewinnen, ist ungemein schwieriger. Am besten gelingt das aus meiner Erfahrung über konkrete Themen, die die Menschen bewegen. Vor einiger Zeit haben wir vor Ort über den Neubau einer Schule diskutiert. Als SPD haben wir uns dazu einen Standpunkt erarbeitet und ihn dann in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der FDP und einer Wählergemeinschaft in die Öffentlichkeit getragen. Und siehe da: Es sind mehr als 100 Leute gekommen. Wir hatten eine tolle Diskussion und hinterher sind einige geblieben, um bei uns mitzumachen.
Ihr Film „unten“ ist alles andere als ein Werbefilm für die SPD, aber er bricht doch mit einigen Klischees, die es über die Partei gibt. Was das das Ziel?
Es war zumindest eine große Hoffnung, weil ich es ja selbst kenne, wenn man zu einer Ortsvereinssitzung kommt und erstmal schockiert ist. Wer das durchhält, muss leidensfähig sein oder Karriere machen wollen. Aber es geht auch anders. Das zeigt die SPD in Bergedorf aus meiner Sicht ganz gut. Was mich an der SPD beeindruckt, ist dieses tolle Netzwerk, das man als Mitglied hat. Man wird ständig zu interessanten Veranstaltungen eingeladen. Man kann bei Fragen überall anrufen und bekommt schnell Antworten. Und man hat gleich eine gemeinsame Grundlage, auch wenn man die Genossen nie zuvor im Leben gesehen hat. Das ist ein wirklich großer Schatz.
Wie kann die SPD diesen Schatz pflegen, also die Ortsvereine so stärken, dass sie erfolgreicher und attraktiver werden?
Ich glaube, im Prinzip sind die Ortsvereine gut so wie sie sind. Natürlich haben Sie mit Problemen zu kämpfen. Die liegen aber eher darin, dass die Parteimitgliedschaft insgesamt immer älter wird. Daran können die Ortsvereine nicht direkt etwas ändern. Entscheidend für die Attraktivität der SPD ist aus meiner Sicht, dass sie sich insgesamt treu bleibt. Das war leider in der – auch jüngeren – Vergangenheit nicht immer so. Die SPD muss das vertreten, was sie in ihrer Programmatik fordert. Jeder Kompromiss, jede Entscheidung, die aufgrund einer Fraktionsdisziplin getroffen wird, nagt daran. Die CDU macht genau, was sie immer predigt: Wirtschaftspolitik. Die Grünen machen immer genau, was sie gerade predigen: Umweltschutz über alles. Die FDP macht immer, was sie predigt: Klientelpolitik.Die AfD macht genau, was sie predigt: Ausländer raus. Wir predigen Gerechtigkeit. Dann sollten wir auch dafür sorgen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.