Buch „Native Nations”: Perspektivwechsel mit Fallstricken
Kathleen DuVal legt mit „Native Nations” eine kritische Auseinandersetzung zur US-Geschichte zur Zeit der Kolonialisierung vor. Das Buch ist so vielschichtig wie unsere Zeit. Und so fragwürdig.
Michael Bröning bespricht „Native Nations” der Autorin Kathleen DuVal.
Die US-Demokraten eröffneten ihr diesjähriges Sommertreffen mit einem Land Acknowledgement: Das ist ein in progressiven Kreisen um sich greifendes Ritual, bei dem vor Beginn einer Veranstaltung auf die Verbindungen des Orts zu den amerikanischen Ureinwohner*innen hingewiesen wird.
„Wir ehren die ursprünglichen Hüter des Landes und der Gewässer von Minneapolis. Die Dakota sorgten über Tausende von Jahren vor der Kolonialisierung für das Land, die Seen und den Wakpa Tanka – den ‚Großen Fluss‘, den Mississippi. Dieses Land ist Teil einer Geschichte gebrochener Verträge und Versprechen. Und in vielerlei Hinsicht leben wir noch immer in einem System, das darauf ausgelegt ist, die kulturelle und spirituelle Geschichte indigener Völker zu unterdrücken.“
Klar: Für Amerikas Rechte war das ein Schmankerl. Kolonialisierung? Hüter des Landes? Wakpa Tanka? Braucht es noch weitere Belege für die Abgehobenheit der Linken? Doch auch im Umfeld der Demokrat*innen regte sich Kritik. Parteistratege James Carville bat flehentlich: „Bitte hört damit auf, im Namen eines gerechten, barmherzigen Gottes!” – „Ihr sollt Wahlen gewinnen, verdammt noch mal.”
Warum die Vorrede? Um deutlich zu machen, wo die US-Debatte zur indigenen Geschichte derzeit steht. Der Begriff Minenfeld drängt sich auf. In diese Gemengelage also tritt nun die Autorin Kathleen DuVal mit ihrem Buch: „Native Nations. A Millennium in North America”.
Vom Mythos des Amerika vor Kolumbus
DuVal ist Professorin in North Carolina und Anliegen ihres Werks ist ein Perspektivwechsel. Der Mythos des unbefleckten Landes wird dekonstruiert. Gezeigt wird: Das Amerika vor Kolumbus hatte urbane Zentren, Handel, Politik, Landwirtschaft. Kurzum, wie es in der Einleitung heißt: Es hatte und „machte Geschichte”. Dabei zeigt die Autorin auch: Die Reduktion indigener Geschichte auf das Bild halbnackter Bisonjäger wiederholt koloniale Stereotype.
So geht es zu den Mississippi-Kulturen, an Hügelbauten, auf kontinentale Handelswege und in diplomatische Verhandlungen zwischen Indigenen und Siedler*innen – lebendig geschrieben und detailreich. Auch die Abgründe werden ausgeleuchtet: Umsiedlungen, Lügen und Verbrechen. Vom Marsch der Tränen bis zu gesetzlicher Diskriminierung. Völkermord? Genozid? DuVal meint: „Labels wie Genozid, Ethnische Säuberung und Siedler-Kolonialismus passen unbestreitbar gut.”
Dabei korrigiert sie immer wieder die Vorstellung, die indigenen Gesellschaften seien mit Eintreffen der Europäer*innen wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Disruption ja. Aber in Jahrhunderten. Und: Das Machtverhältnis war anfänglich umgedreht. Zunächst waren es über Jahrhunderte die Europäer*innen, die sich mit überlegenen Indigenen arrangieren mussten.
Überzeugend ist dabei insbesondere, dass indigene Stimmen selbst zu Wort kommen. Denn dadurch wird eine weitere These des Buches untermauert: dass nämlich Geschichte auch Gegenwart ist.
Doppelstandards und Relativierungen
All das ist verdienstvoll. Jedoch: Manches läuft schief und ist dabei bezeichnend für einen gewissen aktivistischen Trend westlicher Universitäten. Denn immer wieder drängt die Pädagogik so in den Vordergrund, dass faszinierende Einblicke durch Doppelstandards und Relativierungen belastet werden. Geschieht das, wenn der Wunsch zu groß ist, dass ein Beitrag Einfluss auf den öffentlichen Diskurs nehmen soll?
Indigene Foltertechniken werden angesprochen, aber sogleich relativiert: „Nichts ungewöhnliches im 17. Jahrhundert”, befindet DuVal. Auch das Rolandlied verweise schließlich auf Blutvergießen. Hat sich für derlei Relativierungen nicht der Begriff Whataboutism eingebürgert? Gemeint ist der rhetorische Kniff, ein kritisches Argument mit dem Verweis auf einen anderen Missstand zu relativieren. Rassistische Kategorien der Europäer*innen werden zurecht als „hierarchische Obsession” kritisiert. Indigene Schöpfungsmythen aber, in dem der „Herr des Lebens sie vor allen anderen Rassen kreierte und ihnen all seine Weisheit gab”, kommen ohne Einordnungen aus.
Fehlende indigene urbane Zentren zum Zeitpunkt des Ernstkontakts werden dabei als Konsequenz weitsichtiger Entscheidungen dargestellt: Als gewollte Rückabwicklung von Entwicklung zu einem harmonischeren Naturzustand. Das aber scheint dann doch ein schwerer Fall von intentionalistischer Verkürzung.
Zu wenig differenzien, zu viel pauschalisieren
Ist das Konsequenz einer Methode, die sich eben weitgehend auf mündliche Überlieferungen stützen muss und dabei stets den Sprechern die letzte Deutungshoheit zugesteht? Sicher: Gesichtet werden kann nur, was es gibt. Doch auch mündliche Traditionen benötigen Quellenkritik, wie jede Runde Stille Post belegen dürfte.
Die indigene Seite wird dabei zurecht so differenziert wie irgend möglich ausbuchstabiert. Doch warum auf der anderen Seite dann die Pauschalisierung? Denn wenn es um die Motive der Europäer*innen geht, wird vereinfacht, was das Zeug hält. Hier wird dann auch eine Sprache verwendet, die der Autorin bezüglich aktueller Migrationsbewegungen wohl kaum in den Sinn käme: Von „Massen”, die sich illegal ins Land wälzen, ist da die Rede, von „Menschenfluten” und natürlich vom „weißen Kolonialismus”.
Wie wäre es mit Differenziertheit in 360 Grad? Sind die Motive englischer Landadliger wirklich identisch mit denen irischer Bauern, die vor der Kartoffelfäule in die Lower East Side flohen oder denen jüdischer Flüchtlinge aus dem ukrainischen Shtetl? Alles eins? Alles getrieben vom Wunsch nach kolonialer Herrschaft, Profitstreben und White Supremacy?
Das ist ein ziemlich gravierender blinder Fleck. Repliziert die Autorin hier nicht die Art von Verkürzung, die sie eigentlich überwinden möchte? Dennoch: ein Werk, das zur Lektüre empfohlen ist – denn es zeigt, wie progressive Anliegen den Blick weiten, aber dabei Gefahr laufen, legitime Ziele durch ideologischen Überschwang zu konterkarieren.