Filmtipp „Nachlass“: Mein Vater, ein Massenmörder des Holocaust
„Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es zu Ende sein wird“, sagt Ulrich Gantz. Das Mitglied des Freundeskreises der KZ-Gedenkstätte Neuengamme trägt eine schwere Last. Im Zweiten Weltkrieg war sein Vater Teil der Mordmaschinerie der Nazis in Osteuropa. Wie wird man damit fertig, wenn man einem bewusst wird, welche Schuld der eigene Vater auf sich geladen hat?
Offene Fragen, emotionale Verwirrung
Wie viele andere Gesprächspartner in diesem Film schlägt sich Ulrich Gantz seit Jahrzehnten mit dem dunkelsten Kapitel seiner Familiengeschichte herum. Auch er erfuhr erst nach dem Tod des Vaters von dessen Verstrickung in die Massenerschießungen der Einsatzgruppen.
Allerdings scheut sich der mit stoischer Sachlichkeit agierende ältere Herr davor, seinen Vater – zumindest vor der Kamera – zu verdammen. Ihm ist klar, dass er all die offenen Fragen und emotionalen Verwirrungen an seine Kinder weitergeben wird. Wie auch die Dokumente über seinen Vater, die er in einem großen schwarzen Koffer aufbewahrt. Aufarbeitung als Aufgabe für Generationen.
Täterkinder sprechen erst im Großeltern-Alter
Die Geschichte und Geschichten der Täterkinder hat erst vor einigen Jahren größere Aufmerksamkeit gewonnen. Auch, weil viele Betroffene erst öffentlich darüber sprechen konnten, als sie im Großeltern-Alter angekommen waren. Als ihnen die Frage kam: Was will ich meinen Nachkommen hinterlassen?
Ulrich Gantz tauscht sich mit Menschen seines Alters aus, deren Angehörigen ebenfalls die Zeit von Krieg und Völkermord durchlebten, auch aufseiten der Opfer. Am Gedenkort Neuengamme gibt es für diesen Dialog mehrmonatige Gesprächsseminare. Viele Betroffenen engagieren sich beim Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust.
Warum hast du so traurige Augen?
Diesen Dialog zwischen Opfer- und Täterkindern greift „Nachlass“ auf. Männer und Frauen berichten in ausführlichen Monologen, wie die Beschäftigung mit dem Völkermord, aber auch dessen Nachwirkungen, das Werden ihrer Identität prägte. Das lässt sich manchmal an simplen Dingen festmachen. Peter Pognany-Wnendt erinnert sich, wie seine Tochter ihn darauf hingewiesen hat, er habe oft traurige Augen. Da fiel ihm ein, das habe er von seinem Vater. Dessen Eltern wurden im Dezember 1944 am Donauufer in Budapest erschossen und ins Wasser gestoßen. Wie Tausende andere Juden auch. An seiner Seite sitzt Edda Siebert, ebenfalls Psychotherapeutin, und schildert die Spuren des Genozids in ihrem Leben und in dem ihres Sohnes. Allerdings aus Sicht eines Täterkindes.
Ansonsten dominieren Sequenzen mit ausschließlich einem Interviewpartner, sodass sich ein „Dialog“ erst dann ergibt, wenn man die Szenen einander gegenüberstellt. Die Filmemacher Christoph Hübner und Gabriele Voss treten dabei kaum in Erscheinung. Anstatt von Interviews im klassischen Sinne werden wir Zeuge von Monologen, denen ungewöhnlich viel Raum gegeben wird.
Tränen nach dem Auschwitz-Besuch
Mitunter nehmen die Situationen einen überraschenden Verlauf. Die israelische Historikerin Adi Kantor reiste mehrmals zur KZ-Gedenkstätte in Auschwitz. Beim ersten Mal mit deutschen Kollegen, beim zweiten Mal mit ihrem Großvater, einem Überlebenden des Völkermordes. Unter Tränen sagt sie, das sie erst bei letzterem Besuch verstanden habe, was dieser Ort für sie bedeutet. Man könnte vermuten, dass ihr dieser Prozess erst in diesem Moment vor der Kamera bewusst geworden ist.
Die Hinterbliebenen mit ihren häufig widersprüchlichen Gemütslagen stehen in diesem Film klar im Vordergrund. Die Nazi-Täter, deren Schatten noch immer so übermächtig ist, treten als Person, etwa auf Fotos, nur sporadisch in Erscheinung. Auch deren Namen fallen so gut wie nie. Das macht es nahezu unmöglich, sich ein konkretes Bild von diesen Menschen zu machen. Auf die Einschätzung von Historikern oder Archivmaterial wird angesichts einer auf die Gegenwart fokussierte Erzählperspektive komplett verzichtet.
Erinnerungsarbeit als Zukunftsprojekt
Die Zuschauenden müssen sich ganz auf die Sichtweise der Nachfahren einlassen. Auch die Gesprächssituation wird nur für kurze Momente durchbrochen. So wurde eingefangen, wie die neue Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald vorbereitet wird. Nicht nur an dieser Stelle macht dieser insgesamt etwas spröde inszenierte Film deutlich, dass Erinnerungsarbeit immer auch ein Zukunftsprojekt ist.
Info: „Nachlass“ (Deutschland 2017), ein Film von Christoph Hübner und Gabriele Voss, 108 Minuten
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