Justin Trudeau: Warum Kanadas Regierungschef zurücktritt
Von der progressiven Ikone zum abschreckenden Beispiel: Der Rücktritt von Justin Trudeau markiert das Ende einer Ära in Kanada. Der scheidende Premierminister hinterlässt ein Land mit ungewisser Zukunft.
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Der kanadische Premierminister Justin Trudeau tritt nach neun Jahren Regierung zurück.
Es war der verblüffende Schlusspunkt einer Politikerlaufbahn, die mit einem kometenhaften Aufstieg in die oberste Liga der Weltpolitik begann: An einem kalten und windigen Januarvormittag trat Justin Trudeau an ein einsames Rednerpult vor seinem Amtssitz in Ottawa und erklärte seinen Rücktritt als Parteichef der Liberalen und als Premierminister. Nun steckt seine Liberal Party in der Krise und Kanada hat mit politisch instabilen Verhältnissen zu kämpfen.
Die ersten Etappen auf Trudeaus Weg an die Regierungsspitze wirkten oftmals wie ein Polit-Märchen, bei dem Charisma, Vererbung und ein perfektes Timing Regie führten. Als Sohn von Pierre Elliott Trudeau, der als liberaler Premierminister Kanadas zur Legende wurde, war er schon als Kind eine Person des öffentlichen Lebens. Als er 2007 die Politikerlaufbahn einschlug, war er für die Kanadier*innen ein bekanntes Gesicht – und zudem ein jugendlich-telegenes.
Die Liberal Party ist eine Partei der Mitte, die lange als angestammte Regierungspartei im Land galt. 2011 musste sie jedoch eine krachende Wahlniederlage einstecken, nachdem sie jahrelang unter einer schwachen Führung und Flügelkämpfen gelitten hatte. Trudeau kandidierte für den Parteivorsitz und errang zwei Jahre später einen Erdrutschsieg in der ersten Wahlrunde. Zusammen mit einem eingeschworenen Team machte er sich daran, die gebeutelte Partei von Grund auf neu aufzubauen, mobilisierte Stars als Kandidat*innen, führte modernere Kommunikationsstrukturen ein und verschaffte der Partei eine breitere Mitgliederbasis.
Progressive Symbolfigur
Die Erzählung entfaltete eine enorme Zugkraft: Der Sprössling von Kanadas prominentester Politikerfamilie hatte den ihm zugedachten Platz eingenommen, um die Liberal Party aus der politischen Wüste herauszuführen. Er erwies sich in der Tat als führungsstark, setzte dabei vor allem auf „sunny ways“ – also auf Kompromissbereitschaft und diplomatisches Verhandeln. Bei der Unterhauswahl 2015 holte er für seine Partei die absolute Mehrheit der Sitze und beförderte sie auf einen Schlag von Platz drei in die Regierungsverantwortung.
Trudeaus Agenda entsprach exakt dem Zeitgeist: Als selbsternannter Feminist stellte er eine geschlechtermäßig ausgewogene Regierungsmannschaft zusammen, als Verfechter des Klimaschutzes versprach er beherztes ökologisches Handeln, als Internationalist zeigte er sich aufnahmebereit für Geflüchtete. Zudem bewegte er seine Partei nach links, um den Sozialdemokraten das Wasser abzugraben. Trudeau avancierte zum Star unter den Regierungschefs der liberalen Mitte, die damals im Amt waren, und gelangte als progressive Symbolfigur rasch zu weltweiter Prominenz.
Skandale trübten den Glanz der neuen Regierung
Häufig gab es allerdings deutliche Diskrepanzen zwischen Trudeaus Erfolg auf der politischen Weltbühne und den Herausforderungen, mit denen er im eigenen Land zu kämpfen hatte. Eine Reihe von Skandalen und unbedachten Luxusreisen während der Frühphase seiner Amtszeit trübten den Glanz der neuen Regierung. Das mit Trumps erster Präsidentschaft verbundene Chaos und die Neuverhandlungen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens, bei denen viel auf dem Spiel stand, machten ihm schwer zu schaffen.
Die Erfolge seiner ambitionierten politischen Agenda konnten sich jedoch sehen lassen: Er erreichte eine drastische Reduzierung der Kinderarmut und führte landesweit eine bezahlbare Kinderbetreuung ein. Auf der anderen Seite gab es peinliche Fehlschläge. Einer davon war, dass Trudeau sein Versprechen, das antiquierte kanadische Mehrheitswahlrecht zu reformieren, nicht einlöste.
Inflation verursachten Risse in seinem Rückhalt
Bei den landesweiten Wahlen 2019 und 2021 war die Liberal Party weniger erfolgreich, sodass es für sie nur noch zu einer instabilen Minderheitsregierung reichte. Trudeaus Management der Corona-Pandemie bescherte den Kanadier*innen einerseits großzügige Einkommenshilfen und rettete Tausende Menschenleben, andererseits führten Impfpflicht und Lockdowns zu schmerzhaften Spaltungserscheinungen in der Gesellschaft. Die ersten Risse, die der Rückhalt für Trudeau damit bekam, wurden deutlich tiefer, als nach der Pandemie die Inflation das Land erfasste.
Die Bevölkerung hatte mit explodierenden Wohn- und Lebensmittelkosten zu kämpfen, aber Trudeaus Regierung fand allem Anschein nach keine überzeugenden Rezepte zur Lösung dieser Probleme und stolperte von einer Krise in die nächste. Der deutliche Anstieg der bis dahin gutgeheißenen Zuwanderung wurde nicht mehr als etwas Positives empfunden, sondern als Konkurrenzverschärfung auf dem Wohnungsmarkt. Zum ersten Mal begannen die Kanadier*innen, sich von dem Gedanken abzuwenden, dass neue Zuwanderer mit offenen Armen begrüßt werden sollten.
Nachdem Trudeaus Unterstützerbasis 2023 langsam zu schwinden begann, ging sie gegen Ende des vergangenen Jahres in den freien Fall über. Bei Nachwahlen musste die Partei in Wahlbezirken, die ehedem fest in liberaler Hand waren, katastrophale Stimmenverluste hinnehmen. Das schwächte Trudeaus Führungsposition. Während die liberale Regierung ins Straucheln geriet, nutzten die Konservativen und ihr populistischer Parteichef Pierre Poilievre die Gunst der Stunde und präsentierten sich als Kraft des Wandels. Sie machten die Forderung nach bezahlbaren Lebenshaltungskosten zum Dauerthema und sicherten sich damit einen stabilen 20-Prozent-Vorsprung in den Meinungsumfragen.
Schwere strategische Fehler
Der Gnadenstoß folgte im Dezember, als Vize-Premierministerin und Finanzministerin Chrystia Freeland – eine wichtige Verbündete und Trudeaus rechte Hand – kurz vor Veröffentlichung einer wichtigen Konjunkturprognose überraschend zurücktrat und seine Regierung damit an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Vor diesem Hintergrund gestand Trudeau mit seiner kleinlauten Erklärung im Januar das Unvermeidliche ein: Nach drei Amtszeiten mit insgesamt neun Jahren als Regierungschef ist er politisch am Ende seiner Möglichkeiten angelangt.
Trudeaus Niedergang hatte zweifellos auch externe Ursachen wie die gnadenlos steigenden Zinsen, die instabile Weltlage und Donald Trumps Wiederwahl in den USA. Dennoch hat er durch schwere strategische Fehler den eigenen politischen Abstieg selbst mit in die Wege geleitet. Er hat schwierige Entscheidungen aufgeschoben und den Kontakt zur Bevölkerung verloren. Er hat es versäumt, den konservativen Parteichef Pierre Poilievre frühzeitig ins Visier zu nehmen, und tatenlos zugesehen, wie sein Rückstand in den Umfragen immer größer wurde.
Für Kanada entsteht damit eine gefährliche Situation. Bis zu Trumps Amtseinführung sind es nur noch wenige Tage. Dem Land drohen Zölle, die sich verheerend auf die Wirtschaft auswirken könnten. Trudeau bleibt als „lame duck" geschäftsführend im Amt, aber dass die liberale Regierung im März stürzen wird, wenn im März das Parlament seine Arbeit wiederaufnimmt, steht so gut wie fest. Die vorgezogenen Neuwahlen, mit denen anschließend zu rechnen ist, wird die Liberal Party verlieren. Eine konservative Mehrheitsregierung unter Poilievres Führung wird rigoros einen anderen politischen Kurs einschlagen und Trudeaus progressive Errungenschaften zu einem großen Teil rückabwickeln.
Zu viel Distanz zu Alltagssorgen der Stammwähler
Mit zeitlichem Abstand wird die Nachwelt Justin Trudeau in guter Erinnerung behalten. Er hat die Kinderarmut reduziert, das Rentensystem gestärkt und – eine historische Leistung – auf Drängen der Sozialdemokrat*innen das staatliche Gesundheitswesen in Kanada ausgeweitet. Momentan allerdings erweist sich seine Weigerung, die Zeichen der Zeit zu erkennen und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, als Gefahr nicht nur für seine Partei, sondern für das ganze Land.
Für Kanada markiert Trudeaus Abgang das Ende einer Ära. Zugleich ist dieser Abgang ein warnendes Lehrstück und zeigt, wie riskant es ist, wenn progressives Gebaren einen höheren Stellenwert hat als politische Substanz. Mit seiner mutigen Vision erntete Justin Trudeau weltweite Bewunderung, aber er setzte zu sehr auf Symbolik und Rhetorik und entfernte sich dadurch gefährlich weit von den alltäglichen Sorgen und Nöten der eigenen Stammwähler*innen.
Am Ende haben Trudeaus persönliche Schwächen und seine Unfähigkeit, mit seiner Regierung konsequent die alltäglichen Kämpfe der Kanadier*innen im Blick zu behalten, das Vertrauen der Allgemeinheit in seine Führungsstärke schwinden lassen und die eigene Wählerschaft den Konservativen in die Arme getrieben. In vielerlei Hinsicht ist das Kanada, das er hinterlässt, ein besseres Land als vorher – aber es ist auch zerrissener und labiler und geht einer ungewissen Zukunft entgegen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld. Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.
ist Programmverantwortliche für transatlantische Beziehungen und Kanada des Washingtoner Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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