Trucker-Proteste in Kanada: Rechtsextremismus sichtbar gemacht
Die landesweiten Straßenblockaden zum Protest gegen die Corona-Maßnahmen in Kanada sind beseitigt, aber der Ausnahmezustand geht weiter. Regierungschef Justin Trudeau verkündete am Montag, dass die Blockaden entfernt und die Grenzen wieder offen seien. Auch habe sich die Lage in der Hauptstadt Ottawa stark gebessert. Er warnte aber, dass sich einige Lastwagenfahrer*innen außerhalb Ottawas versammelt hätten und weitere Blockaden planen könnten. Erst am vergangenen Wochenende wäre versucht worden, einen Grenzübergang in der Provinz British Columbia zu blockieren, teilte Trudeaus Innenminister mit.
Vor über drei Wochen traf in Ottawa erstmals ein Konvoi von Lastwagen ein und blieb dort. Jetzt ist klar, dass es bei diesem Protest nie um Trucker oder Impfpflichten ging – und noch nicht einmal um die Covid-19-Einschränkungen. Stattdessen hat die anhaltende Blockade die zunehmende Bedrohung durch den hausgemachten populistischen Rechtsextremismus sichtbar gemacht und tiefe Probleme in Kanadas demokratischen Institutionen offenbart.
Eine der höchsten Impfquoten der Welt
Als Ende Januar Konvois aus Hunderten von Lastzügen und Privatwagen nach Ottawa fuhren, war das Ziel klar formuliert: Protestiert wurde gegen die neue Impfpflicht für grenzüberschreitende Lastwagenfahrer*innen. Als sich Tausende von Fußgänger*innen einer Bewegung anschlossen, die zu einer chaotischen, dauerhaften Belagerung der kanadischen Hauptstadt wurde – nur wenige Schritte vom Regierungssitz entfernt –, verschwammen die Ziele allerdings.
Obwohl die Veranstalter*innen des Konvois und ihre Unterstützer*innen gern das Bild eines gespaltenen Landes verbreiten, waren sich die Kanadier*innen in ihrer Unterstützung strenger Gesundheitsmaßnahmen während der Pandemie immer ziemlich einig. Fast 85 Prozent der impffähigen Bürger*innen sind vollständig immunisiert – eine der höchsten Impfquoten der Welt – und nur ein Drittel der Kanadier*innen sagen, sie seien bereit, alle Covid-19-Einschränkungen aufzugeben. Was die Lastwagenfahrer*innen insgesamt betrifft, so wird geschätzt, dass 90 Prozent von ihnen vollständig geimpft sind. Die Branche hat sich von den Protesten entschieden distanziert.
Neue Bedrohungen für die nationale Sicherheit
Wie diese kleine Gruppe von Konvoifahrer*innen die Hauptstadt eines G7-Landes blockieren und damit einen nationalen, regionalen und lokalen Ausnahmezustand auslösen konnte, ist eine Lehre für alle, die glauben, Kanada habe dem toxischen Rechtspopulismus, der die Nachbar*innen im Süden so gespalten hat, entgehen können. Die sogenannten Trucker-Proteste sind ein Beweis dafür, dass nicht nur der Einfluss von Desinformationen wächst, sondern auch neue, verstörende und hausgemachte Bedrohungen für die nationale Sicherheit entstehen.
Diese Belagerung hat zwei Gesichter: Als sich die blockierten Straßen an den Wochenenden mit einer Mischung von Gegner*innen der Covid-19-Maßnahmen und -Impfungen, Verschwörungstheoretiker*innen und allgemeinen Regierungskritiker*innen füllten, hielt sich die Polizei aus unerklärlichen Gründen zurück. Insgesamt herrschte eine festliche Stimmung. Auf den durch Lastwagen blockierten Straßen gab es Hüpfburgen für Kinder, Feuerwerk und Tanzpartys mit DJs. Manchmal verfinsterte sich die unbeschwerte Stimmung zwar – beispielsweise als Demonstranten am Grab des unbekannten Soldaten tanzten oder Arbeiter*innen und Anwohner*innen bedrohten oder angriffen. Im Allgemeinen beschrieben die Medien die ersten Tage der Besatzung jedoch als laute, aber friedliche Proteste.
Das andere Gesicht der Proteste
Aber dann war da auch immer noch das andere Gesicht: Von Anfang an war diese chaotische Versammlung von einer beängstigenden und extremistischen Agenda geprägt. Schon lange, bevor die Trucks in Ottawa eintrafen, war die Gefahr von Gewalt in der Hauptstadt für Sicherheitsexperten offensichtlich. Organisator*innen riefen offen zum Bürgerkrieg auf und erklärten ihre Absicht, mit großen Lastwagen – die leicht Waffen verbergen können oder selbst zu solchen werden können – vor die Tore des Parlaments zu fahren. In Anspielung auf den Sturm auf das US-Kapitol wollten sie die Demonstrationen zu „Kanadas 6. Januar“ machen. Und um diese Absicht zu verdeutlichen, verlasen sie ein Manifest mit Forderungen, die darauf abzielten, den amtierenden Ministerpräsidenten Justin Trudeau abzusetzen.
In Ottawa angekommen, beeilten sich die Organisator*innen des Konvois – von denen einige bis vor kurzem noch für die Polizei oder das Militär gearbeitet hatten –, die Besatzung zu konsolidieren. Sie bildeten in anderen Teilen der Stadt und in umliegenden ländlichen Gebieten ein Netzwerk von Satellitencamps, um Ernährung und Nachschub für die Teilnehmer*innen zu gewährleisten. Sie „vereidigten“ ihre eigenen „Friedensoffiziere“ und versuchten laut Berichten, Mitglieder der Polizei von Ottawa zu verhaften. Trotz offizieller Appelle, Kinder in Sicherheit zu bringen, wurden sie im Laufe der Wochen sichtbarer Bestandteil der besetzten Zonen. Auch in anderen Landesteilen gab es Blockaden – wie jene an einem wichtigen US-Grenzübergang, die sechs Tage dauerte und wegen Handelsausfällen Schäden in Milliardenhöhe verursachte.
Durchsetzt von weißem, nationalistischem Rechtsextremismus
Zu den Organisator*innen des Konvois gehören auch Personen, die offen Verschwörungstheorien wie die Verdrängung der „weißen Rasse“ propagieren und Verbindungen zu in Kanada aktiven organisierten Hassgruppen pflegen. Diese Menschen beschränken sich nicht auf leere Worte: Als die Polizei bei einer parallelen Blockade in Alberta ein Waffenlager aushob und vier Männer verhaftete, wurden bei deren Waffen und deren taktischen Ausrüstung Abzeichen des Diagolon-Netzwerks gefunden, einer wenig bekannten rechtsextremen Gruppe, die den Sturz der Regierung zum Ziel hat. In Ottawa wurden Symbole der „Bewegung für die Überlegenheit der weißen Rasse“ verwendet, darunter auch Confederacy-Flaggen aus den USA und Hakenkreuze. Dies waren keineswegs Einzelfälle. Der Konvoi war von Anfang an von weißem, nationalistischem Rechtsextremismus durchsetzt. All dies wirft die Frage auf: Wie konnte eine so kleine Gruppe mit einer gefährlichen Neigung zum Aufstand so viel Einfluss gewinnen?
Bei der Mobilisierung von Menschen für den Konvoi haben Desinformationen im Internet eine erhebliche Rolle gespielt, und ein großer Teil dieses Problems ist hausgemacht. Während der Pandemie haben rechtsextremistische Online-Inhalte in Kanada deutlich zugenommen. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass bis zu 40 Prozent der Kanadier*innen für verschwörungstheoretisches Gedankengut empfänglich sind. Durch den regierungsfeindlichen Extremismus, der sich in den USA verbreitet, werden auch kanadische Extremist*innen inspiriert und angespornt, was wiederum zu ähnlichen Aktionen im Ausland anregt.
Katastrophale Reaktion der Regierung
Wie Polizei und Regierung auf den Konvoi reagiert haben, kann nur als katastrophal bezeichnet werden: Im Vorfeld hatte es viele Warnungen gegeben, dass der Konvoi für eine langfristige Belagerung ausgerüstet und von einer gefährlichen Ideologie getrieben sei. Dennoch kamen die für die Sicherheit der Hauptstadt Verantwortlichen offenbar nicht auf die Idee, dass diese Demonstrant*innen einfach nicht verschwinden würden.
Wochenlang gab es so gut wie keine lokalen Polizeimaßnahmen und der Polizeichef, der inzwischen zurückgetreten ist, behauptete, Strafzettel zu verteilen oder für Recht und Ordnung zu sorgen, sei zu gefährlich. Der örtliche Bürgermeister wiederum stieß alle vor den Kopf, indem er mit den Organisatoren aushandelte, dass sie auf anderen Straßen bleiben könnten, wenn sie Wohngebiete verließen.
Ontarios populistisch-konservativer Premierminister Doug Ford war auffällig abwesend, bis die Konvois Grenzübergänge blockierten, wodurch einige Produktionsstätten, die auf den Import von Teilen aus den USA angewiesen sind, schließen mussten. Auf Bundesebene wurde der unbeliebte Parteichef der Konservativen von seiner Fraktion abgesetzt, weil diese hinsichtlich des Konvois gespalten war.
Erster Notstand in der Geschichte Kanadas
Ministerpräsident Trudeau tat die Teilnehmer*innen des Konvois zunächst als „Randminderheit“ ab, rief aber einige Tage später erstmals in der kanadischen Geschichte den Notstand aus, um den Behörden Sonderrechte zur Auflösung der Besatzung zu gewähren. Der Notstand wurde diesen Montag verlängert. Und während sich verschiedene Regierungsebenen wochenlang gegenseitig die Schuld gaben, setzten sich die Demonstrant*innen fest, vernetzten sich und wurden immer radikaler.
Für ein Land wie Kanada, dessen Gründungsmotto „Frieden, Ordnung und gute Regierung“ lautet, könnte es kaum etwas Destabilisierenderes geben als die Erkenntnis, dass seine wichtigsten demokratischen Institutionen nicht in der Lage sind, diese Grundsätze im Krisenfall zu verteidigen. Aber genau das ist es, was sich in Ottawa im letzten Monat gezeigt hat. Wenn es aus diesen seltsamen und verstörenden Ereignissen etwas zu lernen gibt, dann die Tatsache, dass wir uns ernsthaft um die Schwächen unserer zentralen Institutionen kümmern müssen – und wie gefährlich es ist, Teile der Bevölkerung zu ignorieren, die sich der Verschwörung und dem Hass verschrieben haben, auch wenn ihre Gruppe noch so klein ist.
Am 22. Februar erschienen im IPG-Journal
ist Programmverantwortliche für transatlantische Beziehungen und Kanada des Washingtoner Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung.