Inland

Fünf Jahre nach Hanau: Das Problem heißt Rechtsextremismus – und nimmt zu

Am 19. Februar 2020 tötete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte. Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Fünf Jahre danach ist Rechtsextremismus weiter ein großes Problem in Deutschland – und zwar mehr denn je.

von Jonas Jordan · 19. Februar 2025
Zum fünften Jahrestag: Etwa 1.000 Menschen gedenken in Hanau der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags vom 19. Februar 2020.

Zum fünften Jahrestag: Etwa 1.000 Menschen gedenken in Hanau der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags vom 19. Februar 2020.

Kaloyan Velkov, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Hamza Kurtović und Ferhat Unvar – am 19. Februar 2020 brachte ein Rechtsextremist im hessischen Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte um. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Zum fünften Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Video: „Wir können dem rassistischen Hass entgegentreten, der den Morden von Hanau zugrunde lag.“ Denn die Antwort fünf Jahre nach Hanau müsse lauten, Menschenhass keinen Raum zu geben.

Reem Alabali-Radovan, Staatsministerin für Migration und Integration sowie Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung, bemängelte derweil in einem Post auf „LinkedIn“: „Hanau hätte eine Zäsur und ein Weckruf sein müssen, war es aber nicht. Rassistische Positionen nehmen sich immer mehr Raum und polarisierte Debatten in Politik und Parlamenten über Flucht und Migration stigmatisieren immer wieder Menschen mit Einwanderungsgeschichte.“ Deswegen seien viele Menschen frustriert, hielten diese Situation nicht mehr aus und hätten „richtig Angst“, dass sie als nächstes dran sind. Ein Blick auf die Zahlen untermauert Alabali-Radovans Beitrag. Sie zeigen, dass Rechtsextremismus hierzulande ein wachsendes Problem ist.

Rechtsextremistisches Personenpotenzial

Das rechtsextremistische Personenpotenzial ist nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz noch einmal gestiegen und umfasst aktuell 40.600 Personen. Das sind rund 1.800 mehr als im Vorjahr. Es setzt sich zusammen aus Parteien, parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen – hierzu zählen unter anderem Kameradschaften, Vereine und Verlage und ein weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial, zu denen auch Gewalttäter*innen gehören. Denn auch das Personenpotenzial der gewaltorientierten Rechtsextremist*innen hat sich mit rund 14.500 Personen gegenüber den Vorjahren erneut erhöht.

Rechtsextremistische Straftaten

Schon im Jahr 2023 stieg nach Angaben des Verfassungsschutzes die Zahl rechtsextremistischer Gewalt- und Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 22,4 Prozent an. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl auf ein Rekordhoch. So wurden 41.406 Delikte gezählt, fast 13.000 mehr als im Vorjahr (2023: 28.945). Durchschnittlich gab es im Jahr 2024 also 113 rechtsextreme Straftaten pro Tag in Deutschland. Darunter waren 1.443 Gewalttaten (2023: 1.270), umgerechnet also vier pro Tag. Die Zahlen sind vorläufig und könnten sich durch Nachmeldungen noch erhöhen. Eine abgeschlossene Jahresstatistik wird das Bundeskriminalamt voraussichtlich im Frühjahr vorstellen.

Rechtsextremistische Musikveranstaltungen

Es waren Bilder, die weltweit für Aufsehen sorgten. Im Sommer 2017 feierten im thüringischen Themar mehr als 6.000 Neonazis bei einem Rechtsrock-Festival. Anschließend kursierte ein Handyvideo im Netz, auf dem dutzende Menschen den rechten Arm zum „Hitler-Gruß“ emporreckten. Dagegen regte sich Widerstand, beispielsweise vor Ort durch das vom Sozialdemokraten Thomas Jakob angeführte „Bündnis für Demokratie und Weltoffenheit Kloster Veßra“. Im Sommer 2022 äußerte daher auch der thüringische Innenminister Georg Maier im Interview mit dem „vorwärts“ die Hoffnung: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es auch in Zukunft schaffen, diese Rechtsrockkonzerte klein zu halten oder sogar zu verhindern. Momentan sehen wir auch noch keine Aktivitäten großer Natur.“

Doch zumindest bundesweit nahm nach einer deutlichen, corona-bedingten Delle die Anzahl der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen wieder deutlich zu. Waren es im Jahr 2021 lediglich 144, stieg die Zahl im Jahr 2023 wieder auf 322 an. Allerdings: Es fehlten laut Verfassungsschutz bislang auch weiterhin die besucherstarken und öffentlichkeitswirksamen Musikgroßveranstaltungen mit mehr als 500 Teilnehmer, welche zuletzt im Jahr 2019 – also vor der Corona-Pandemie – stattgefunden hatten.

Rechtsextremistische Demonstrationen

Im Jahr 2021 zählte das Bundesamt für Verfassungsschutz deutschlandweit – wohl auch wegen der Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie – lediglich 88 rechtsextremistische Demonstrationen, ausgerechnet 88, was in rechtsextremen Kreisen eine Chiffre für „Heil Hitler“ ist. Ihre Zahl stieg jedoch deutlich an und erhöhte sich bis zum Jahr 2023 um mehr als das Vierfache. Damals waren es 367 rechtsextremistische Demonstrationen, der Großteil davon übrigens mit fast 200 angemeldet von den sogenannten Freien Sachsen, einer rechtsextremen Kleinpartei.

Untergetauchte Rechtsextreme

Die Anzahl der Rechtsextremist*innen, die untergetaucht sind und per Haftbefehl gesucht werden, bleibt weiter hoch. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Gruppe der Linken im Bundestag hervor. Demnach gab es zum Stichtag Ende März vergangenen Jahres 798 offene Haftbefehle gegen 606 Personen. Im Jahr zuvor waren es bundesweit 776 Haftbefehle gegen 597 Personen. Fast die Hälfte der rund 800 erfassten Haftbefehle war Medienberichten zufolge maximal ein halbes Jahr alt. Rechnet man die Haftbefehle gegen Reichsbürger*innen und ähnliche Gruppierungen dazu, dürften es sogar mehr als 1.000 offene Haftbefehle sein.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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Gespeichert von rainer jähnke (nicht überprüft) am Mi., 19.02.2025 - 23:57

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Warum gedenkt seit 8 Jahren kein Mensch den 16 gemorderten Opfern des Herrn Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz? Dessen erstes Opfer war ein polnischer LKW-Fahrer.
War es der falsche Täter ?
Der Mörder von Hanau war im übrigen psychisch krank. Er hat schließlich nicht nur sich, sondern auch seine Mutter getötet. Diese wird aber sehr selten als Opfer genannt.
Die hessische Polizei hätte ihm längst den Waffenschein abnehmen müssen, hier leigt eindeutig ein Versagen vor.

Gespeichert von Kai Doering am Do., 20.02.2025 - 12:51

Antwort auf von rainer jähnke (nicht überprüft)

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Jedes Jahr am 19. Dezember findet eine Gedenkveranstaltung in der Gedächtnis-Kirche statt.

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