Meinung

Nach den Landtagswahlen: Warum die Gesellschaft jetzt zusammenhalten muss

Das starke Abschneiden der AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen hatte sich abgezeichnet und ist dennoch schockierend. Nun allein auf die Politik zu zeigen, reicht aber nicht aus. Es kommt darauf an, dass die Gesellschaft Rückgrat zeigt.

von Christian Wolff · 3. September 2024
Spontane Anti-AfD Demo in Hamburg am 1. September: Garanten für das sein, was jetzt auf dem Spiel steht

Spontane Anti-AfD Demo in Hamburg am 1. September: Garanten für das sein, was jetzt auf dem Spiel steht

Die Ergebnisse der Landtagswahl in Sachsen und Thüringen sind keine Überraschung. Dennoch ist es mehr als ernüchternd, das bestätigt zu sehen, was sich seit Monaten abgezeichnet hat: in Thüringen wird die rechtsradikale AfD durch das Votum der Wähler*innen zur stärksten und in Sachsen knapp hinter der CDU zur zweitstärksten Partei. Die Ergebnisse werden auch dadurch nicht besser, dass die AfD gegenüber ihrem Hype zu Beginn des Jahres sowohl in Thüringen wie in Sachsen deutlich unter dem damals befürchteten Zustimmungswert – der lag bei bis zu 40 Prozent – geblieben ist. Dazu hat das millionenfache Aufbegehren vieler Bürger*innen in ganz Deutschland gegen den offenen Rechtsradikalismus der AfD nach den Enthüllungen von „Correctiv“ geführt.

Die AfD verachtet die parlamentarische Demokratie

Dennoch ist es ein bedrohliches Zeichen, dass fast ein Drittel der Wähler*innen aus freien Stücken und viele aus innerer Überzeugung ihre Stimme der AfD gegeben haben – einer Partei, die nicht deswegen rechtsextremistisch ist, weil es der Verfassungsschutz feststellt. Die AfD verachtet die parlamentarische Demokratie und will die europäische Einigung, die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft aushebeln und zerstören. Darüber hinaus knüpfen sie und ihre ideologischen Steigbügelhalter*innen in ihrem völkischen Nationalismus an die Ideologie der NSDAP vor 90 bis 100 Jahren an.

Im vollen Wissen um diese Inhalte verhelfen ein Drittel der Wähler*innen einer solchen Partei durch ihre Stimmabgabe zu Macht und Einfluss – und das an dem Tag, an dem vor 85 Jahren Deutschland den Vernichtungskrieg gegen Polen entfachte, eine der verheerenden Folgen einer systematischen Verharmlosung rechtsextremer Demokratie- und Freiheitsfeinde in der Weimarer Republik. Ein erschreckendes Fanal!

Verantwortlich sind die Wähler*innen

Keine Frage: Auch der traurige Zustand der Ampelkoalition, das oft so ferne, abgehobene und gleichzeitig unbeholfene Auftreten ihrer Repräsentant*innen, das Unvermögen, die notwendigen Entscheidungen zu kommunizieren, werden zu dem erschütternden Wahlergebnis beigetragen haben. Die SPD wird im jetzigen Zustand auch in westdeutschen Bundesländern Schiffbruch erleiden, wenn sie ihre Regierungspolitik nicht stärker ausrichtet an der eigenen Programmatik.

Auf der anderen Seite: Bei näherem Hinsehen erweist es sich als große Herausforderung, auf all den Gebieten, die das Leben der Menschen unmittelbar berühren, dringend notwendige politische Entscheidungen zu treffen, die auf eine größtmögliche Akzeptanz bei Bürger*innen und Bürgern stoßen: Klimaschutz, Energie- und Mobilitätswende, ausreichender Wohnraum, auskömmliche Renten, Schutz vor Terror und Krieg. Insofern ist der mantramäßig vorgetragene Vorwurf des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), die Ampelregierung trage die Hauptverantwortung an dem hohen Stimmenanteil für die AfD, ein billiges Ablenkungsmanöver. Nein: Verantwortlich für die Stimmabgabe ist zunächst allein der/die Wähler*in.

Ohnmachtserfahrung und Rettungsphantasien werden zu einem bräunlichen Gebräu

Entscheidend für das Wahlergebnis ist aber etwas anderes: Immer mehr Menschen projizieren alles, was sie persönlich betrifft und umtreibt, insbesondere ihre eigenen Probleme, auf die politischen Entscheidungsträger*innen und die „Systemparteien“, weil es ihnen selbst an einem eigenständigen Umgang mit Krisen und Verwerfungen jeder Art mangelt. Es mangelt ihnen an einem die eigenen, bis ins Maßlose hinein gesteigerten Ansprüche Korrektiv. Es mangelt ihnen auch daran, ein diffuses Unbehagen den gegenwärtigen Lebensumständen mit all den Unsicherheiten gegenüber, einzuordnen und eine Zielrichtung zu geben.

Es mangelt ihnen an einem Antrieb, sich selbst an den Geschehnissen zu beteiligen und Verantwortung zu übernehmen. Wenn Menschen dann noch im ländlichen Raum erleben, wie in den letzten Jahrzehnten die Infrastruktur zerbröselt und sie sich familiär und gesellschaftlich allein gelassen, ansonsten aber fremdbestimmt vorkommen, dann paaren sich Ohnmachtserfahrung und Rettungsphantasien zu einem bräunlichen Gebräu: ein Führer, einer wie Höcke, muss es richten.

Ein Weg wie vor 100 Jahren

In Gesprächen bricht sich das dann in allgemeinen Vorwürfen Bahn: Die da in der Regierung tun nichts für mich, stattdessen wirtschaften sie in die eigene Tasche und führen das Land an den Abgrund. Daraus resultiert das merkwürdige Vertrauen, das solche Menschen gegenüber Autokraten bzw. autokratischen Systemen an den Tag legen: Die werden meine Probleme beseitigen – zumal „Die“ vorgeben, alles sofort lösen zu können, nicht ohne vorher noch kräftig die Ängste zu schüren. 

Dass dieser scheinbar einfache Weg nicht funktioniert, sondern eine Gesellschaft über kurz oder lang ruiniert, wird damit kompensiert, dass sich Menschen in die „Ruhezonen“ zurückziehen, die autokratische, diktatorische Systeme nicht nur versprechen, sondern mit Zwang und Gewalt durch den Ausschluss von Vielfalt durchzusetzen versuchen. Das alles hat sich vor 100 Jahren nicht nur angebahnt mit einem grauenhaften Ausgang. Genau diesen Weg wollen Wähler*innen wieder beschreiten. Was für ein gruseliges Szenario!

Garanten für demokratische Vielfalt

Auf diesem Hintergrund erscheint das Wahlergebnis vom 1. September 2024 nicht nur erklärbar. Es muss jede*n, der/die die freiheitliche Demokratie nicht aufgeben will, zutiefst erschrecken. Denn das Dramatische des Wahlergebnisses liegt darin: je größer der Stimmenanteil rechtsextremer Parteien, desto „normaler“ erscheint ihre völkisch-nationalistisch Programmatik. Es wird aber darauf ankommen, dass möglichst viele Bürger*innen in der Lage sind, ihr eigenes Leben einordnen können in die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Es wird darauf ankommen, das Selbstbewusstsein eines jeden Menschen so zu stärken, damit er zu Empathie, sozialem Verhalten, Nächsten- und Feindesliebe in der Lage ist, also die Interessen und Lebensmöglichkeiten des Anderen achtet. 

Spätestens hier wird deutlich, vor welch großer Aufgabe alle Institutionen stehen, die Menschen stärken wollen: Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Ausbildungsstätten, Sport- und Kulturvereine. Niemals dürfen die sich dem Ansinnen beugen, völkischer Homogenität zu dienen. Im Gegenteil: Sie müssen Garanten für das sein, was jetzt auf dem Spiel steht: demokratische Vielfalt in einer offenen Gesellschaft.

Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.

Autor*in
Christian Wolff
Christian Wolff

ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.

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5 Kommentare

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Mi., 04.09.2024 - 11:13

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"Warum die Gesellschaft jetzt zusammenhalten muss"

Die Gesllschaft ist bereits tief gespalten. Während Corona wurden Millionen Ungeimpfte aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Bis heute wurden wir nicht rehabilitiert. Für mich gibt es diese Gesellschaft gar nicht mehr.

"und das an dem Tag, an dem vor 85 Jahren Deutschland den Vernichtungskrieg gegen Polen entfachte"

Hat die AfD entschiedem, dass die Wahl am 1.9. stattfinden soll? Wenn nicht es es ja reichlich absurd der AfD vorzuwerfen, genau an diesem Tag gut abgeschnitten zu haben.

Der Vorwurf richtet sich sicherlich an jene, die diese rechtsextreme Partei an eben jenem Datum gewählt haben.

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Mi., 04.09.2024 - 18:42

Antwort auf von Jonas Jordan

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Dieser Kommentar wurde gelöscht, da er gegen Punkt 1 der Netiquette verstößt. Bitte beachten Sie die Netiquette!

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Mi., 04.09.2024 - 21:07

Antwort auf von Jonas Jordan

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Wahltermin erfolgte mir großer Sorgfalt, gepaart mit der Erwartung, die AfD dann doch wenigstens an diesem historisch belasteten Tag nicht zu wählen. Ich denke, der Plan ist auch aufgegangen, denn sonst wäre der Zuspruch, den die AfD erfahren hat, sicher noch viel größer als so schon

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 05.09.2024 - 18:56

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Schön sind die Walergebnisse nicht und sie sollten bei der SPD endlich zu einem Aufwacheffekt führen, aber davon merke ich nichts.
Die afd schöpft die Stimmen der Arbeitnehmerschaft ab - eigentlich die traditionellen Wähler der SPD. Mit Dauerbeschimpfung der afd und ihrer Wähler kommt man dagegen an, aber wieviele SPD-Politiker gibt es noch die dieser Zielgruppe glaubhaft versichern können sich für ihre Interessen einzusetzen ? Da hapert es.
Wo ist der Geist von Brandt, Palme und Kreisky ? Die SPD Großkopferten sollten endlich mal eine Initiative starten damit in der Ukraine, in Palästina ....... diee Waffen ruhen und es zu Frieden kommen kann. Vor 3 Jahren saß die Bundeswehr auf einmal auf dem Flughafen von Kabul, von allen Geistern auf die man sich verlassen hatte verlassen und daraus hat man anscheinend nichts gelernt.
Vor ca. 15 Jahreen mahnte Steinmeyer noch daß die NATO mit dem Säbelrasseln an der russischen Grenze aufhören sollte. Es gab noch Spuren von Sozialdemokratie in der SPD und haben auch noch die Wähler honoriert.
Keine Waffenexporte in Krisengebiete ! Wer hat SICH verraten ?