Meinung

Links und frei: Warum die SPD den Freiheitsbegriff zurückerobern muss

Freiheit ist einer der Grundwerte der SPD. Doch wir haben den Freiheitsdiskurs so sträflich vernachlässigt, dass es den Rechten ein Leichtes war, den Begriff zu kidnappen. Die SPD muss sich von den Rechten zurückholen, was das Ihre ist.

von Jochen Ott · 19. September 2024
Freiheit darf nicht zu Egoismus verkommen. Dafür muss die SPD kämpfen.

Freiheit darf nicht zu Egoismus verkommen. Dafür muss die SPD kämpfen.

Freiheit als Freiparken, als Steuerfreiheit für Spitzeneinkommen, als das Recht zu rasen, zu lügen und zu hetzen: Was uns Rechtspopulist*innen, Libertäre und verirrte Konservative als Freiheit verkaufen wollen, ist die Freiheit der dummen Kerle. Nützlich für ein paar reiche Kerle, schädlich für alle anderen Menschen in unserem Land. Nichts von dem bringt mehr Selbstbestimmung, nichts ein besseres Leben. Das Einzige, das Trump, Höcke und Co befreien wollen, sind unsere inneren Schweinehunde, damit sie das Gesellschaftsklima vergiften und unsere Lebensqualität fressen. 

Der Freiheitsbegriff gehört nach links

Gleichwohl: Die Freiheit der dummen Kerle hat Konjunktur. Aber daran bin auch ich schuld, wie die SPD insgesamt. Wir haben den Freiheitsdiskurs so sträflich vernachlässigt, dass es den Rechten ein Leichtes war, den Begriff zu kidnappen. Wir haben aber auch die Freiheit selbst vernachlässigt, nämlich dort, wo zu viele Vorschriften Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer daran hindern, drängende Probleme zu lösen. Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung und Mitbestimmung. Und bringen wir den Freiheitsbegriff wieder dorthin zurück, wo er hingehört: Nach links, zur Sozialdemokratie. 

Deshalb sei daran erinnert, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung seit ihren ersten Tagen eine Freiheitsbewegung ist: für Redefreiheit, Wahlfreiheit, Koalitionsfreiheit. Nicht zuletzt: für die Freiheit der Frau, denn „es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter“ (August Bebel).

Es geht um Selbstbestimmung und Selbstermächtigung

Als Freiheitsbewegung kämpft die Sozialdemokratie also um weit mehr als nur um liberale Grundrechte. Freiheit bedeutet, dass eine Köchin Rechte hat, die sie gegenüber ihrem Arbeitgeber durchsetzen kann: anständige Bezahlung, Urlaub, Mitbestimmung. Freiheit bedeutet, dass ihre Tochter durch Fleiß und Förderung Chirurgin wird – weil sie es kann und weil sie es will. Freiheit bedeutet, dass beide Frauen andere Frauen lieben und heiraten können, wenn sie es wollen. Und wenn eine von beiden als Mann leben will? So what?

Freiheit bedeutet, von niemandem erpressbar zu sein, nur weil er reicher, weißer oder „Chef“ ist. Es geht um Selbstbestimmung und Selbstermächtigung, übrigens auch um ein Minimum an Kontrolle über den eigenen Lebenslauf. „Take back control!“ – der Schlachtruf der Brexitiers – ist eigentlich ein linkes Versprechen. Ein linkes Versprechen, dass die Rechten und Libertären gar nicht einlösen können, weil sie alles als Sozialismus und Bevormundung schmähen, was Menschen Freiheit gibt: gleiche Rechte, gleiche Chancen, Vielfalt und soziale Gerechtigkeit.

Freiheit beginnt mit dem „Wir!“

Der Zweck des demokratischen Staates, so Ferdinand Lassalle, sei es den Arbeiterinnen und Arbeitern zu einer „Summe von Bildung, Macht und Freiheit“ zu verhelfen, die ihnen sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich wäre.“ Das ist die Pointe des sozialdemokratischen Freiheitsbegriffs: solidarischer Individualismus. Für Menschen, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen, gibt es gelebte Individualität nur durch gegenseitige Unterstützung. Die Köchin und ihre Tochter sind so lange erpressbar, wie sie auf sich allein gestellt sind. Erst wenn Arbeitnehmer gemeinsam ihren Anteil am Haben und Sagen erstreiten, bekommt jeder einzelne Zugang zu allen (im-)materiellen Gütern, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen: Einkommen und soziale Sicherheit, Bildung und Mobilität, nicht zuletzt das Recht auf Mitbestimmung. Freiheit beginnt mit dem „Wir!“. 

Darum sollten alle, die mit der Freiheit der dummen Kerle liebäugeln, gewarnt sein: Wenn Ihr Egoismus mit Freiheit verwechselt, seid Ihr am Ende nicht frei, sondern nur allein. Wenn Ihr wahllose Deregulierung unterstützt, habt Ihr am Ende nicht weniger Regeln, sondern nur weniger Rechte. Die Regeln für Euch machen dann andere: Milliardäre wie Musk und Thiel oder die Bullys in der Chefetage. Auch die Steuerfreiheit für Vermögen und Spitzeneinkommen werdet am Ende Ihr bezahlen: mit schlechteren Schulen, kaputten Straßen und weniger Sicherheit.

Der Anfang einer Revolution

Die Bourgeoise missbrauche den Freiheitsbegriff zur Bewahrung ihrer Privilegien, behauptete Lassalle. Die Arbeiterschaft hingegen besitze gar keine Privilegien und würde deshalb ihre Freiheit einzig und allein in den Dienst des Allgemeinwohls stellen, für eine „Summe von Glück, Bildung und Wohlsein, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte“.

Das war dann doch zu idealistisch gedacht. Doch im Kern liegt darin noch immer der Schlüssel zu einem besseren Land: in der Überzeugung, dass die allermeisten Menschen weder Abzocker*innen noch Betrüger*innen noch Faulenzer*innen sind, dass sie mit ihrem Wissen und ihrem Können ein besseres Leben für alle möglich machen wollen. Neues Vertrauen in den guten Willen der Erwerbstätigen wäre der Anfang einer Revolution.

Wo es mehr Freiheit(en) braucht

Beispiel Pflege und Gesundheit (sechs Millionen Beschäftigte): Die Pflicht, jeden Handschlag minutiös festzuhalten, führt dazu, dass Dokumentationen besser gepflegt werden als Menschen. Vertrauen in Pflegekräfte würde 90 Prozent dieser Vorschriften überflüssig machen.

Beispiel Schule und Kita (1,4 Millionen Beschäftigte): Die Lehrpläne in Norwegen sind nur wenige Seiten lang, in Deutschland mehr als hundert. Unsere Schulen brauchen mehr Freiheit in der Unterrichtsgestaltung. Es braucht einen Fächer-Dispens: Streichen wir in der Primar- und Sekundarstufe 1 die Fächervorgaben. Dafür gibt es dann mehr Output-Kontrolle bei den Basiskompetenzen: Deutsch, Mathematik, Englisch, Demokratiekompetenz. Gleiches gilt für die Berichtspflichten in den Kitas. Arbeit am Bericht ist keine Arbeit am Kind. Auch Kitas brauchen Verwaltungskräfte

Beispiel Landwirtschaft und Lebensmittel (1,5 Millionen Beschäftigte): Die Qualitätskontrollen des Einzelhandels sind so streng, dass sie nicht durch staatliche Kontrollen gedoppelt werden müssen. Generell gilt: Die konsequente Digitalisierung und Vereinheitlichung von Statistikpflichten für die staatlichen Ebenen würden enorm viel Zeit und Geld sparen. Eine Erfassung muss reichen. Die Unternehmen und ihre Beschäftigten haben ein Recht auf Transparenz bei dem Stand von Genehmigungsverfahren. Wo die Prozesse digitalisiert und einsehbar sind, ist schon heute die Zufriedenheit aller Beteiligten deutlich höher.

Mehr Freiheit durch mehr Vertrauen

Das sind nur wenige von vielen weiteren Beispielen, die sich in allen Branchen finden lassen. Wichtig ist: Kontrolle durch mehr Vertrauen zu ersetzen, ist weit mehr als nur blinde Deregulierung. Es ist ein Projekt für mehr Freiheit und Selbstbestimmung in der Arbeitswelt, erst recht wenn es mit verbesserten Mitbestimmungsrechten im Betrieb verbunden wird. 

Das ist unsere Alternative zur Freiheit der dummen Kerle: Mehr Freiheit durch mehr Vertrauen und mehr Mitbestimmung, durch Solidarität und soziale Sicherheit für alle Lebensentwürfe. So ist moderne Sozialdemokratie: links und frei.

Der Text basiert auf einem Gastbeitrag, der am 13. September in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen ist.

Autor*in
Jochen Ott

ist Vorsitzender der SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen.

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