Bedrohter SPD-Grundwert: „Freiheit war immer auch ein linkes Ideal.“
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Die Nichtregierungsorganisation „Freedom House“ stuft zurzeit 82 Staaten der Erde als „frei“ ein. 59 Staaten gelten als „zum Teil frei“ und 54 als „nicht frei“. Wie ist es aus Ihrer Sicht um die Freiheit in der Welt bestellt?
Die Freiheit ist bedroht. Auf der einen Seiten machen ihre klassischen Feinde von rechts gegen sie mobil. Auf der anderen Seite aber wenden sich auch traditionelle Unterstützer vom Ideal der Freiheit ab. Das macht die Situation noch gefährlicher als die Statistik nahelegt.
Warum wenden sich Menschen vom Wert der Freiheit ab?
Zum Teil dürfte das damit zu tun haben, dass Freiheit seit dem Ende des Kalten Kriegs mehr und mehr als Selbstverständlichkeit gilt. Aber aktuell ist auch zu beobachten, dass Freiheit angesichts der Vielzahl der politischen Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben, auch in Teilen des fortschrittlichen Lagers als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen wird. Mancherorts wird ein Lob der Freiheit mittlerweile geradezu als unverantwortliches rechtes Gerede abgetan. Sind die lautesten Freiheitsrufer nicht die Querdenker und die Trump-Anhänger?
Woran liegt das?
Die neue Rechte hat den Begriff der Freiheit geschickt für sich besetzt. Das reicht von der „Freiheitlichen Partei“ in Österreich über die „Partei für die Freiheit“ in den Niederlanden und den „Freiheitstag“ vom Corona-Virus in Großbritannien bis zur „Jungen Freiheit“ als Zentralorgan des Rechtspopulismus in Deutschland. Damit wird das Ideal der Freiheit mehr und mehr in eine Ecke gedrängt, in die es nicht gehört. Freiheit ist schließlich ein zentraler demokratischer Wert und letztlich das Betriebssystem unserer Gesellschaft. Es heißt nicht umsonst „Einigkeit und Recht und Freiheit“.
Hierzulande würden wahrscheinlich viele – trotz der aktuell gültigen Corona-Einschränkungen – die Freiheit nicht als akut gefährdet bezeichnen.
Und damit wären wir bei einem Teil des Problems. In meinem Buch beziehe ich mich auf den Philosophen Isaiah Berlin, der die Begriffe der positiven und der negativen Freiheit geprägt hat. Negative Freiheit umfasst die Freiheit von Fremdbestimmung und die Möglichkeit das Leben frei zu gestalten, solange dies keinem anderen schadet. Parallel dazu spricht Berlin von einem positiven Freiheitsaspekt, auf den sich insbesondere linke Kräfte gerne berufen. Bei der positiven Freiheit geht es nicht um die Freiheit von irgendetwas, sondern um die Freiheit zu etwas. Beispielsweise um die Freiheit, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen oder um die Freiheit tatsächlich zu wählen, welchen Beruf man ergreift. Dafür aber braucht es einen Staat, der faire Rahmenbedingungen schafft, denn Freiheit ist nicht voraussetzungsfrei. Zu einem demokratischen Freiheitsbegriff gehören positive und negative Freiheiten. Mich treibt um, dass in Teilen des fortschrittlichen Milieus diese Balance aus dem Lot geraten ist.
Welche Gefahren sehen Sie darin?
Die Gefahr, dass wir einen wesentlichen Bestandteil der Freiheit übersehen. Zurecht fordern progressive Kräfte im Sinne der positiven Freiheit einen handlungsfähigen Staat, der für Chancengleichheit sorgt. Dabei dürfen wir aber die Freiheit von Bevormundung nicht vergessen. Auch Freiheit von Fremdbestimmung war schließlich immer ein linkes Anliegen. Um es etwas zu überzeichnen: Ganz praktisch geht es dann auch darum, sich eben frei entscheiden zu können, ob man in der Kantine die Currywurst bestellt oder den Veggie-Burger. Aber es geht auch um die Frage, ob man sich für die Meinungsfreiheit einsetzt – und zwar auch wenn Positionen vertreten werden, die man eben nicht teilt.
In der Corona-Pandemie wurden die Freiheitsrechte in einem Maß eingeschränkt, wie es zumindest die jüngere Generation in Deutschland bisher nicht kannte. Kann das zu einem neuen Bewusstsein für den Wert der Freiheit führen?
Das wäre zu hoffen. Aber in vielen westlichen Gesellschaften kommen die stärksten Impulse des Einstehens für freiheitliche Standards bislang eher nicht aus dem progressiven Spektrum. Statt einer Reflexion über die Frage, welche Maßnahmen zweckmäßig und angemessen gewesen sind, um die Corona-Pandemie zu bekämpfen, beobachte ich dort vielerorts eher Reflexe. Das hat massiv damit zu tun, dass die gesamte Frage der Pandemie-Bekämpfung Teil des aktuellen Kulturkampes wurde. Da standen dann plötzlich auch legitime Einwände unter dem Verdacht, das Geschäft der Rechtspopulisten zu erledigen. Die gesellschaftlichen Lehren, die wir aus der Corona-Zeit gezogen haben, und die Standards, die wir gesetzt haben, sind deshalb aus freiheitlicher Sicht problematisch.
Zumal vorangegangene Freiheitsbeschränkungen, etwa nach Terroranschlägen, häufig nicht wieder zurückgenommen werden.
So ist es. Ich lebe und arbeite ja zurzeit in den USA. Fast alle Freiheitsbeschränkungen und Ausweitungen der Befugnisse von Sicherheitsbehörden, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erlassen wurden, gelten noch immer. Das wurde nicht zuletzt in einer aktuellen Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung noch einmal herausgearbeitet. Viele Maßnahmen wurden sogar weltweit exportiert. Manche erinnern sich vielleicht noch an den gescheiterten „Schuh-Bomber“, der 2001 mit einem Sprengsatz, der in seinen Schuhen versteckt war, ein Flugzeug in die Luft sprengen wollte. Auch 20 Jahre danach müssen Fluggäste an der Sicherheitskontrolle deshalb ihre Schuhe ausziehen. Über den Sinn jeder einzelnen Maßnahme kann man sich streiten. Aber das Beispiel zeigt, dass auch temporäre Einschränkungen die Tendenz haben, dauerhaft zu werden.
Was bedeutet das für die Corona-Maßnahmen?
Dass wir bei jeder Maßnahme genau abwägen müssen. Ich hoffe sehr, dass wir, was die Freiheitsrechte angeht, wieder zur Vor-Corona-Zeit zurückkehren werden. Vor zwei Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass über Nacht weltweit Schulen geschlossen, Grenzen dichtgemacht und Grundrechte eingeschränkt werden. Die Tatsache aber, dass das so reibungslos funktionierte, sollte uns zu denken geben. Denn es zeigt, dass Menschen bereit sind, sehr weitreichende Einschränkungen auch von Grundrechten hinzunehmen, wenn sie Angst um Leib und Leben haben. Ich hoffe, unser gesellschaftliches Muskelgedächtnis hat das nicht allzu tief verinnerlicht – gerade im Hinblick auf künftige Krisen, an denen ja kein Mangel herrscht.
Sind die demokratischen und progressiven Kräfte weltweit überrumpelt worden?
Man muss sicher berücksichtigen, dass enormer Handlungsdruck herrschte. Aber nach fast zwei Jahren Pandemie sollten wir ehrlich und umfassend bilanzieren und nicht nach der Devise: Schwamm drüber. Was die Freiheit als Wert angeht aber haben wir auch ein Problem in der Wahrnehmung. Teile des progressiven Milieus müssen eben erstmal wirklich realisieren, dass es da überhaupt ein Problem gibt. Und dass dieses Problem eben auch in Teilen vom fortschrittlichen Lager ausgeht. Der Economist hatte vor einigen Wochen eine Titelgeschichte zum „Illiberalismus von Links“. Das Kehren vor der eigenen Tür ist immer eine heikle Angelegenheit und Abwehrreflexe sind vorprogrammiert. Trotzdem sollten wir uns der Auseinandersetzung stellen. Denn das Abwenden von der Freiheit auch in Teilen der Linken ist ja ein weltweites Phänomen.
Wo sehen Sie die Ursachen dafür?
Eine Ursache dürfte darin liegen, dass Freiheit in Zeiten der vermeintlichen Alternativlosigkeiten als Verantwortungslosigkeit wahrgenommen wird. In progressiven Kreisen kann manchmal der Eindruck entstehen, es gebe stets nur einen – auch moralisch – richtigen Weg, auf Herausforderungen zu reagieren, sei es bei Corona oder beim Klimawandel. Follow the Science, heißt es dann gerne. Das ist ja auch nachvollziehbar. Aber es darf eben nicht dazu führen, dass jede Form des Zweifels als Fahrlässigkeit gilt. Technokratische Alternativlosigkeit darf kein Dauerzustand sein. Alles Staatsgewalt geht vom Volk aus, steht in unserem Grundgesetzt, nicht von der Wissenschaft, so wichtig diese auch ist.
Wie können die progressiven Kräfte den Freiheitsbegriff wieder zurückholen?
Zunächst, indem sie daran erinnern, dass Freiheit kein rechtes Schlagwort ist, sondern Teil unserer demokratischen DNA. Auch die Sozialdemokratie sollten den Freiheitsbegriff deshalb nicht reflexhaft dem politischen Gegner überlassen. Freiheit war immer auch ein linkes Ideal. Karl Marx hat sich intensiv mit der Freiheit auseinandergesetzt. Seine Vision war das Reich der Freiheit. Auf der Fahne des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins stand die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Und Willy Brandt hat seine Biografie mit „Links und frei“ überschrieben. Es ging fortschrittlichen Kräften immer auch um Befreiung. Das sollten wir uns wieder stärker ins Gedächtnis rufen. Der Zeitpunkt dafür könnte kaum besser sein.
In einer Zeitung war kürzlich über einem Artikel über die Koalitionsverhandlungen die Überschrift zu lesen: „Die Ampel bringt uns jetzt die große Freiheit“. Sehen Sie das auch so?
Die Ampel-Koalition ist eine Chance, das Ideal der Freiheit von Links wiederzuentdecken und Freiheit auch als zentrale Herausforderung der Gegenwart zu begreifen. Bei aller Für- und Vorsorge beinhaltet Freiheit eben auch die ganz klassische Freiheit von Bevormundung. Das ist gemeint, wenn Isaiah Berlin sagt: „Freiheit ist Freiheit.“ Wenn die künftige Koalition beide Freiheitsaspekte in eine neue Balance bringt und den Freiheitsbegriff insoweit auch neu bewertet, ist das sicher gut für die Demokratie. Entscheidend dürfte dabei auch sein, wie das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit austariert ist. Die Rolle der SPD ist dabei wesentlich. Denn Freiheit ist ja nicht umsonst einer ihrer drei Grundwerte.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.