Meinung

75 Jahre Grundgesetz: Warum wir mehr europäische Demokratie wagen sollten

Die Verlagerung vieler politischer Entscheidungen auf die europäische Ebene habe zu einem Demokratiedefizit geführt, kritisieren zwei Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie schlagen drei konkrete Maßnahmen vor, um mehr europäische Demokratie zu wagen.

Mehr politische Debatten im Europaparlament fordern zwei Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Mehr politische Debatten im Europaparlament fordern zwei Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung.

„Europas Zukunft liegt in unserer Hand", proklamierte der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede vor dem Europaparlament am 9. Mai 2023. Damit hat er recht, denn die Sozialdemokratie braucht ein starkes, soziales und demokratisches Europa. Wir müssen also mehr europäische Demokratie wagen. Das klappt aber nur, wenn wir alle unseren Teil dazu beitragen. Nicht nur Abgeordnete, sondern jede*r einzelne Bürger*in ist gefragt. Doch wie genau kann mehr europäische Demokratie von der Utopie zur Realität werden? 

Wie die europäische Demokratie gestärkt werden kann 

Das Grundgesetz legt fest: Alle Macht geht vom Volke aus. Dafür gießt der Bundestag, der den demokratischen Willen der Bürger*innen repräsentiert, politische Inhalte in Gesetze.  Viele unserer Regeln stammen aber mittlerweile – jedenfalls teilweise – aus Brüssel. Besonders in den Bereichen Landwirtschaft, Wirtschaft, Umwelt und Verkehr ist es mehr als jede Zweite. Das fordert die Gewaltenteilung des Grundgesetzes heraus, da in der EU der Rat – die Vertretung der nationalen Regierungen – und das Europäische Parlament gemeinsam Gesetzgeber sind. Die Bundesregierung ist also Teil der EU-Gesetzgebung, während der Bundestag nur mitwirken kann und damit Entscheidungsmacht verliert. Das Europäische Parlament, obwohl mit der Zeit mit weiteren Rechten gestärkt, kann den Verlust parlamentarischer Kontrolle nicht ausgleichen. Ihm fehlen wichtige Befugnisse nationaler Parlamente wie das Recht, Gesetze vorzuschlagen. 

Auch wenn die Sozialdemokratie zu Recht das Endziel eines europäischen Bundesstaates fordert, kann und soll in der aktuellen Struktur der EU das Europäische Parlament die nationalen Parlamente nicht ersetzen. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem im Lissabon-Urteil klargestellt, dass Deutschland ein souveräner Staat bleiben muss. Müssen wir uns also zwischen einer starken Demokratie und der europäischen Idee entscheiden? 

Damit können wir uns nicht zufriedengeben! Die Vision der Sozialdemokratie von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität kann nur verwirklicht werden, wenn wir immer engere europäische Kooperation und eine starke Demokratie vereinen. Wir schlagen drei Maßnahmen vor, die sofort angegangen werden können. Sie können das Demokratieproblem zwar nicht vollständig lösen, aber abschwächen. Gleichzeitig können sie die europäische Demokratie stärken.

Mehr Debatte in den Parlamenten!

Im Gesetzgebungsprozess der EU dominiert der Trilog, in dem Vertreter*innen des Parlaments, der Kommission und des Rates sich einigen. Dieses Verfahren ist effizient, aber auch intransparent. Um die europäische Demokratie zu stärken, muss mehr Debatte im Plenum des Parlaments stattfinden. Die parlamentarische Debatte stiftet demokratische Legitimität. Sie macht das Parlament zu einem Forum der Gemeinschaft. Wenn das Europäische Parlament ein solches Forum sein soll, muss der demokratische Streit im Europäischen Parlament sichtbarer werden. Es braucht also nichts Geringeres als einen Wandel der Parlamentskultur. Diesen können nur die Parlamentarier*innen selbst herbeiführen, denn sie entscheiden, was sie debattieren. Die Triloge müssen dafür nicht aufgegeben werden. Es reicht, wenn die Lesungen aktiver zur Politisierung genutzt werden. Jede Politisierung bringt uns einer stärkeren europäischen Demokratie näher. 

Ähnliches gilt für den Bundestag. Dieser muss seine begrenzten Mitwirkungsmöglichkeiten im europäischen Gesetzgebungsprozess ausschöpfen und die Bundesregierung stärker kontrollieren. Denn der Bundestag ist ein starkes und personell gut ausgestattetes Parlament. Diese Stärke sollten die Abgeordneten nutzen, um an der EU-Politik aktiver mitzuwirken, so wie es das Grundgesetz vorsieht. Dafür erhalten sie von der Bundesregierung Berichte über politische Entwicklungen auf EU-Ebene. Die Abgeordneten sollten die Vorhaben der Bundesregierung mehr in die öffentliche Debatte tragen. Nur in diesem Stadium können Abgeordnete tatsächlich noch die EU-Politik beeinflussen.

Bürger*innen, geht mit gutem Beispiel voran

Aber auch die Bürger*innen haben mit der Europäischen Bürgerinitiative die Möglichkeit, einen Vorschlag direkt bei der EU-Kommission einzureichen und sollten dies auch tun. Denn auch wenn diese Initiativen oft nicht umgesetzt werden, setzen sie ein Thema auf die politische Agenda. Das bietet die Chance auf europaweite Diskussionen, die Voraussetzung für eine europäische Öffentlichkeit. Eigentlich sollten die Europawahlkämpfe einen solchen Diskursraum schaffen. Diese basieren aber nicht auf europäischen, sondern nationalen Wahllisten. Das führt dazu, dass der Wahlkampf sich um nationale Themen dreht und nationale Narrative dominieren. Hier ist es auch Aufgabe der Parteien, europapolitische Inhalte in den Mittelpunkt zu rücken.

Europa braucht dich! 

Warten wir nicht auf die nächste Vertragsreform. Nehmen wir das Schicksal der EU selbst in die Hand. Mit mehr Debatte im EU-Parlament, mehr EU-Debatte im Bundestag und mehr EU-Debatte in der europäischen Zivilgesellschaft. Lasst uns mehr europäische Demokratie wagen!   

Zur Reihe:

Der Beitrag ist während einer Demokratiewerkstatt der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden. Diese beschäftigte sich anlässlich des 75. Jubiläums mit dem Grundgesetz. Der vorliegende Beitrag wird im Juni außerdem im Sammelband „Verfassung im Fluss – 75 Jahre Grundgesetz“ erscheinen.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Fr., 24.05.2024 - 10:30

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"Die Verlagerung vieler politischer Entscheidungen auf die europäische Ebene habe zu einem Demokratiedefizit geführt....."
Steckt da vielleich Absicht dahinter ???