Kultur

„Das Grundgesetz ist eher zurückhaltend. Das finde ich sehr angenehm.“

Die Deutschen sollten sich mehr mit ihrer Verfassung beschäftigen, findet Alexander Thiele. Der Professor für Staatstheorie hat deshalb eine verständlich erklärte Fassung des Grundgesetzes als „Entdeckungsreise“ geschrieben. Im Interview sagt Thiele, was ihn daran besonders beeindruckt.

von Kai Doering · 23. Mai 2024
Verfassung auf der Tasche: Am Ende ist das Grungesetz nur so gut wie es von der Bevölkerung auch getragen wird, sagt der Rechtswissenschaftler Alexander Thiele.

Verfassung auf der Tasche: Am Ende ist das Grungesetz nur so gut wie es von der Bevölkerung auch getragen wird, sagt der Rechtswissenschaftler Alexander Thiele.

Für Ihre erklärte Ausgabe des Grundgesetzes haben Sie sich sehr intensiv mit unserer Verfassung auseinandergesetzt. Was macht dieses Dokument für Sie aus?

In erster Linie ist das Grundgesetz das Fundament unserer Staatsordnung. Es enthält die fundamentalen Grundsätze, wie wir miteinander umgehen wollen, aber auch die Regeln, wie wir als Gesellschaft zu Entscheidungen kommen. Dadurch ist das Grundgesetz auch sehr präsent in unser aller Alltag, ohne dass wir es immer sofort bemerken. Ich halte es übrigens für ein gutes Zeichen, wenn eine Verfassung ihre Wirkung entfaltet, ohne ständig in den Vordergrund gerückt werden zu müssen. Das Grundgesetz drängt sich nicht auf, sondern ist eher zurückhaltend. Das finde ich sehr angenehm.

Ihr Buch ist als „Entdeckungsreise“ angelegt. Welchen neuen Entdeckungen haben Sie selbst beim Recherchieren und Verfassen gemacht?

Als Jurist beschäftige ich mich schon seit Jahrzehnten professionell mit dem Grundgesetz. Trotzdem war dieses Buch nochmal eine tolle Chance, sich Artikel anzusehen, die man sonst nicht so häufig aufschlägt oder gar am Stück betrachtet. Darüber sind mir Dinge im Aufbau des Grundgesetzes aufgefallen, die mir vorher gar nicht bewusst gewesen sind. Warum steht dieser Abschnitt hier? Warum folgt Thema X auf Thema Y? Diese Zusammenhänge haben mir nochmal bewusst gemacht, was für ein Gesamtkunstwerk unser Grundgesetz eigentlich ist. Das gerät im juristischen Tagesgeschäft leider häufig etwas aus dem Blick. Deshalb rate ich den Leserinnen und Lesern meines Buchs auch nicht unbedingt, es von vorne bis hinten durchzulesen, sondern lieber zu blättern und Eindrücke zu sammeln. Diese Entdeckungsreise lohnt sich.

Und das, obwohl die Mütter und Väter das Grundgesetzes ja innerhalb weniger Monate entworfen und aufgeschrieben haben.

Ja, das ist absolut beeindruckend! Ich bin mir auch nicht sicher, ob in Deutschland ähnliches in der heutigen Zeit möglich wäre. Natürlich ist das Grungesetz nicht aus dem Nichts entstanden. Deutschland hat ja eine Verfassungsgeschichte, die durchaus nicht nur negativ gewesen ist. Die Revolutionsverfassung von 1848/49 hat natürlich Einfluss gehabt auf die Entstehung des Grundgesetzes. Auch aus der Weimarer Verfassung wurde einiges übernommen, das Religionsverfassungsrecht sogar nahezu wörtlich. An vielen Stellen ist das Grundgesetz aber auch innovativ und neu, etwa wenn man sich die besondere und starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts ansieht. Auch die Idee der Ewigkeitsklausel, dass also die Grundsätze des Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes nicht abgeschafft werden können, ist eine Besonderheit und nahezu revolutionär. Natürlich haben hier die Erfahrungen der NS-Zeit eine entscheidende Rolle gespielt.

Im Grundgesetz ist sogar seine eigene Abschaffung angelegt – dann nämlich, wenn „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, wie es in Artikel 146 formuliert ist. Warum ist man vor diesem Schritt bisher zurückgeschreckt, etwa bei der Wiedervereinigung?

Veränderungen am Grundgesetz hat es in den letzten 75 Jahren ja immer wieder gegeben, auch wenn manche eher Verschlimmbesserungen gewesen sind, nicht nur sprachlich. Manche Artikel erinnern inzwischen eher an Verwaltungsvorschriften als an die Formulierung von Grundrechten. Warum nach der Wiedervereinigung Artikel 146 nicht genutzt wurde, ist schwer zu sagen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben, die sich ja gar nicht sehr stark vom Grundgesetz hätte unterscheiden müssen. Man hätte aber die beiden Erfahrungsräume aus Ost und West mit einbeziehen können, um den gemeinsamen Neuanfang nach der Wiedervereinigung erfahrbar werden zu lassen. Das hätte vielleicht das Gefühl, „übernommen“ worden zu sein und nicht so richtig dazu zu gehören, gar nicht erst entstehen lassen. Andererseits: Die gewählte Volkskammer der DDR wollte erstmal den schnellen Beitritt nach dem damaligen Artikel 23 GG.

Sehen Sie nach 75 Jahren dennoch Verbesserungsbedarf am Grundgesetz?

Da bin ich sehr zurückhaltend, denn insgesamt halte ich das Grundgesetz für eine sehr gelungene Verfassung – gerade auch weil sie sehr aufnahmefähig ist für gesellschaftlichen Wandel. Ein Pluspunkt des Grundgesetzes ist, dass es zwar den Rahmen setzt, aber den Inhalt weitestgehend der Politik überlässt. Leider wirkt das Bundesverfassungsgericht diesem Grundgedanken manchmal etwas zu sehr entgegen.

Inwiefern?

Das Bundesverfassungsgericht liest aus meiner Sicht allzu oft Dinge in das Grundgesetz hinein und verdichtet es dadurch sehr. Dabei ist die Stärke des Grundgesetzes gerade, dass es Politik ermöglicht und nicht verunmöglicht. Die Forderung des Grundgesetzes ist: mehr Politik wagen! Daran sollte sich das Bundesverfassungsgericht stärker orientieren und der Politik wieder mehr Luft zum Atmen lassen. Über das Recht allein lassen sich politische Herausforderungen nicht meistern. Das sollten sich auch diejenigen zu Herzen nehmen, deren Blick und Hoffnung sich allzu schnell auf Karlsruhe richtet. Wer das Bundesverfassungsgericht fragt, kriegt immer auch eine Antwort. Aber ob die immer notwendig und sinnvoll ist, bezweifle ich, wie zuletzt die Entscheidung zur Schuldenbremse gezeigt hat.

In der Corona-Pandemie wurden einige Grundrechte vorübergehend eingeschränkt, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Vieles, was vorher selbstverständlich war, war nicht mehr möglich. Hat diese Erfahrung die Einstellung der Deutschen zum Grundgesetz verändert?

Die Corona-Pandemie war eine fundamentale Herausforderung für alle demokratisch verfassten Staaten weltweit. In autoritären Systemen wie China wurden Schutzmaßnahmen einfach angeordnet und Menschen weggesperrt, ohne dass es eine Diskussion darüber gegeben hätte. In Demokratien ist das glücklicherweise anders. Dadurch hat sich aber auch gezeigt, dass viele Freiheiten, die wir in Deutschland genießen, zurecht als selbstverständlich erachtet werden und sich niemand vorstellen kann, sie zu verlieren, wenn auch nur vorübergehend. Insofern waren die Erfahrungen der Corona-Zeit für viele ein Schock und ein Wachrütteln. Das hat jedoch nicht dazu geführt, dass sich mehr Menschen mit dem Grungesetz auseinandergesetzt haben. Stattdessen wurden eher Klischees und falsche Vorstellungen über unsere Grundrechte nach vorne gestellt. Bei manchen hat das zu einer Abkehr vom Verfassungsstaat geführt. Eine absolute Freiheit kann es aber auch mit den Grundrechten, die uns das Grundgesetz gewährt, nie geben. Am Ende ist das Grungesetz nur so gut wie es von der Bevölkerung auch getragen wird.

Der Gesprächspartner:
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht, an der BSP Business & Law School in Berlin

Das Buch:
Das Grundgesetzt. Verständlich erklärt von Alexander Thiele, mit einem Geleitwort von Jagoda Marinić, ISBN: 978-3-15-014415-2, 8 Euro

Die Gesprächsreihe:
Die BSP Business and Law School und die Urania Berlin laden in den kommenden Monaten dazu ein, die Grundrechte besser kennenzulernen. Am 4. Juni diskutiert SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zum Thema „Grundgesetzliches: Eigentum verpflichtet.“

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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