Film „Soundtrack to a Coup d’Etat”: Afrikas Zeitenwende und der Jazz
Dunkle Schatten über dem Licht der Freiheit: Am Beispiel des Kongos zeigt der Dokumentarfilm „Soundtrack to a Coup d’Etat“, wie junge afrikanische Staaten während der 60er-Jahre in den Strudel globaler Konflikte und Interessen gerieten. Und warum es beim Jazz jener Zeit nicht nur um Musik ging.
Grandfilm/Robert Lebeck
Dieses Bild ging als Symbol für die Überwindung des Kolonialismus um die Welt: Der Kongolese Ambroise Boimbo nimmt sich den Paradedegen von Belgiens König.
Mit diesem Affront hat der Kolonialherr, der schon sehr bald keiner mehr sein sollte, nicht gerechnet. Am 29. Juni 1960 besucht Belgiens König Baldouin Léopoldville, die Hauptstadt von Belgisch-Kongo. Dieser wird einen Tag später in die Unabhängigkeit entlassen. Die Menschen auf den Straßen sind voller Euphorie, aber auch Wut auf die Monarchie, die ihr Land jahrzehntelang ausgeplündert hat.
Und dann passiert es: Der Kongolese Ambroise Boimbo nähert sich dem offenen Wagen des Königs, klaut seinen Degen und hält ihn triumphierend in die Luft. Das Bild des deutschen Fotoreporters Robert Lebeck geht um die Welt.
Das „Afrikanische Jahr“ sorgte für Euphorie
Die Aufnahme zählt zu den besonders ikonischen Dokumenten jenes „Afrikanischen Jahres“, als sich eine Reihe von Kolonien in die Freiheit aufmachen. Es soll der Beginn einer neuen und vor allem hoffnungsvollen Ära sein.
Nicht nur im Kongo kommt es anders. Gut sieben Monate nach dem Degendiebstahl wird der größte politische Hoffnungsträger des Landes ermordet: Patrice Lumumba war der erste Premierminister des freien Kongo. Es spricht viel dafür, dass Belgien und die USA beim Tod des Vorkämpfers der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung ihre Finger im Spiel hatten. Die Geißel der enthemmten Gewalt prägt das Land bis heute.
All dies ruft der Dokumentarfilm „Soundtrack to a Coup d’Etat“ in Erinnerung. Und nicht nur das: Indem der belgische Regisseur Johan Grimonprez die Vorgänge im flächenmäßig zweitgrößten Land Afrikas rekonstruiert und damit die eine oder andere Leerstelle im kollektiven Gedächtnis der einstigen Kolonialmacht füllt, gibt er auch einen Kommentar zur Gegenwart ab.
Wie Wirtschaftsinteressen Kriege befeuern
Damals wie heute werden Kriege und Konflikte auch von mächtigen Wirtschaftsinteressen getrieben: erst recht, wenn der militärisch-industrielle Komplex ins Spiel kommt. Seit den 40er-Jahren waren die reichen Uran-Vorkommen des Kongos weltweit begehrt. Heute ist es das Erz Coltan, das unter anderem wichtige Mineralien für die Herstellung elektronischer Geräte wie Smartphones enthält.
Grimonprez blickt zurück auf eine Zeit des Aufbruchs, die schnell in den Schatten des Kalten Krieges geriet. Während die USA und die einstigen Kolonialherren skeptisch auf die Freiheitsbewegungen blickten oder diese bekämpften, kam Unterstützung von der Sowjetunion und ihren Verbündeten: im Film besonders symbolträchtig zu erleben bei einem Schlagabtausch zwischen US-Präsident Eisenhower und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Chruschtschow in der UN-Vollversammlung.
Für seinen Blick in die Epoche von Dekolonisierung und Kaltem Krieg wählte Grimonprez einen unkonventionellen Weg. Der Titel deutet es bereits an: „Soundtrack to a Coup d’Etat“ („Soundtrack zu einem Staatsstreich“) hat viel mit Musik zu tun, genauer mit der Verknüpfung von Jazz und Politik. Unter anderem geht es darum, welche Wechselwirkungen zwischen einer Musikrichtung, die viele als Symbol für die Überwindung von Grenzen sehen, und Freiheitsbewegungen im Kongo und anderswo bestanden.
Louis Armstrongs Charme-Offensive in Afrika
In einer der zahllosen Schnipsel aus Archivaufnahmen und Fotos (darunter auch das Bild vom „Degendieb“) ist zu sehen, wie die US-amerikanischen Jazz-Musiker*innen Abbey Lincoln und Max Roach in eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats platzen, um gegen die Ermordung Lumumbas zu protestieren.
Wir erleben, wie Stars wie Louis Armstrong oder Nina Simone durch den Kongo und andere afrikanische Länder touren, um eine Charme-Offensive für die USA zu veranstalten, freilich immer mit CIA-Agent*innen im Nacken. Anders gesagt: Jazz wird auch als Sound der Propaganda porträtiert, selbst wenn den Künstler*innen diese Rolle zunächst nicht bewusst war.
Aber auch die ästhetische Gestalt des Films ist jazzig geraten. Die Erzählung springt von Schauplatz zu Schauplatz, kehrt aber immer wieder in den Kongo zurück und wird von zeitgenössischen, mitunter auch die Zeitläufte reflektierenden Jazz-Songs untermalt. Durch die Vielzahl an Perspektiven (Statements aus jener Zeit überwiegen klar gegenüber Zeitzeug*innen-Interviews) ergibt sich eine Vielstimmigkeit, die die Orientierung nicht immer leicht macht.
Ein entlarvendes Spiegelbild
Auch die Laufzeit von zweieinhalb Stunden stellt Parallelen zu einem Longtrack des Jazz her. In beiden Fällen wird empfohlen, sich dem Fluss und dem Rhythmus der Eindrücke hinzugeben und abzuwarten, wohin die Reise geht.
Für diesen mehr essayistischen als (im klassischen Sinne) analytischen Dokumentarfilm gilt: Die Reise lohnt sich absolut. Grimonprez ist auch dank einer ebenso subtilen wie pointierten Montage ein gleichermaßen lakonisches, entlarvendes und auch schockierendes Spiegelbild einer Zeitenwende gelungen. Ihre Folgen halten Afrika und den Rest der Welt bis heute in Atem.
„Soundtrack to a Coup d’Etat” (Frankreich, Belgien, Niederlande 2024), ein Film von Johan Grimonprez, Schnitt: Rik Chaubet, 150 Minuten.
Im Kino. Weitere Infos unter grandfilm.de