Umgang mit Israel: „Das widerspricht allem, wofür der ESC stehen sollte.“
Die Debatte über den Start der israelischen Sängerin Yuval Raphael polarisiert beim diesjährigen Eurovision Song Contest. Die ESC-Experten Martin Schmidtner und Marc Schulte sehen das kritisch. Der Charakter des Festivals habe sich aber schon vor Jahren verändert.
IMAGO/ANP
Sorgt für Kontroversen beim Eurovision Song Contest: die israelische ESC-Teilnehmerin Yuval Raphael
Am Samstag findet das Finale des Eurovision Song Contest 2025 in Basel statt. Wie ist der diesjährige ESC-Jahrgang?
Martin Schmidtner: Dieser Jahrgang ist nicht unser liebster. Viele Lieder sind nur schwer zugänglich. Es sind einige schöne Sachen dabei, es gibt aber auch viel Mühseliges. Aber in der Show am Samstag wird manches vielleicht auch nochmal anders rüberkommen als in den Videos und den Halbfinals.
Marc Schulte: Ich denke, es ist ein Unterschied, ob man die Lieder live in der Halle erlebt wie wir es ja in vielen Jahren hatten, oder zuhause am Fernseher. In der Halle setzt irgendwann ein gewisser Weichspüleffekt ein, den man zuhause nicht hat. Da hauen einen die Lieder vielleicht einfach nicht so vom Hocker
Schmidtner: Das stimmt! Ich war gerade für zwei Monate in Spanien und habe dort miterlebt, wie der spanische Beitrag gewählt wurde. Danach lief er dort ständig in den Diskos und am Strand. So habe ich ihn immer wieder gehört und er ist im Moment mein absoluter Favorit. Wenn man ein Lied schon gut kennt, hat man natürlich einen ganz anderen Zugang ,als wenn man es am Samstag zum ersten Mal hört.
Martin
Schmidtner
In den sozialen Medien tobt ein regelrechter Krieg.
Erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine: Der ESC ist schon länger nicht mehr das unbeschwerte Event, das es vor einigen Jahren noch war. Macht sich das in diesem Jahr in den Performances bemerkbar?
Schmidtner: Corona und der Krieg in der Ukraine haben natürlich ihre Spuren hinterlassen. Aber den ESC aus seiner Glückseligkeit herausgerissen hat etwas anderes: Erstens hat die EBU, die European Broadcasting Union, als Veranstalter eine neue Führung bekommen und die hat sehr viele Dinge verändert. Sie hat die Fans rausgedrängt. Sie hat die Berichterstattung monopolisiert auf eine Zusammenarbeit mit TikTok und ihren eigenen Kanälen. Das war der erste große Einschnitt, der uns auch bewogen hat, nicht mehr jedes Jahr zum ESC zu fahren. Der zweite Einschnitt war dann im vergangenen Jahr die Israel-Palästina-Debatte. Wir hatten schon letztes Jahr das Gefühl, dass aus dem Song Contest ein Mobbing-Contest wird. Es gab sehr viele Teilnehmer, die Israel nicht beim ESC haben wollten. Das widerspricht eigentlich allem, was der ESC in den 50, 60 Jahre zuvor gewesen ist.
Schulte: Viele waren entsetzt, wie die israelische Kandidatin in der Halle ausgebuht und an den Rand gestellt wurde. Insofern habe ich auch ein bisschen Angst vor dem, was am Samstag in Basel passieren könnte.
Es gibt bereits eine Petition, die fordert, dass die israelische Künstlerin Yuval Raphael wegen des Kriegs im Gaza-Streifen vom ESC ausgeschlossen wird. Wie sehr beeinflusst das den Umgang der Künstler*innen untereinander?
Schmidtner: In den sozialen Medien tobt da ein regelrechter Krieg. Ich habe deshalb auch überhaupt keine Lust mehr auf irgendwelche Fanforen. Eden Golan, die im vergangenen Jahr für Israel angetreten ist, hat vor ein paar Tagen erzählt, dass nur die Kandidaten von drei anderen Ländern, darunter Isaak aus Deutschland, freundlich auf sie zugegangen sind. Die anderen haben sie entweder ignoriert oder angefeindet. Das widerspricht allem, wofür der ESC jemals stand und stehen sollte. Bei Yuval Raphael schmerzt so etwas besonders, da sie selbst beim Angriff der Hamas auf das Festival am 7. Oktober 2023 dabei war und nur überlebt hat, weil sie sich unter zwei Leichen verstecken konnte.
Schulte: Die Situation wird ja häufiger mit dem Umgang mit Russland verglichen. Russland ist ja nicht mehr Mitglied der EBU und wurde nach dem Angriff auf die Ukraine vom ESC ausgeschlossen. Schon vorher gab es wegen des Vorgehens auf der Krim Vorbehalte gegen russische Künstlerinnen beim ESC. Da wurde dann aber in der Halle eher verhalten geklatscht. Das ist etwas anderes, als lautstark zu buhen oder den Daumen nach unten zu zeigen, wie es jetzt bei den Sängerinnen aus Israel gemacht wird. Das ist eine ganz andere Qualität und etwas, das dem Wettbewerb nicht guttut. Ich bin gespannt, wie die EBU damit umgehen wird.
Schmidtner: Zumal die Debatte von Leuten gekapert wird, die nie müde werden, in den sozialen Medien zu fordern, dass der ESC endlich abgeschafft wird. Dass nun genau aus dieser Ecke Kritik an der Teilnahme Israels kommt, empfinden viele als sehr übergriffig.
Könnte diese Debatte dem ESC dauerhaft schaden?
Schmidtner: Ja, die Gefahr ist eindeutig da. Eine so traditionsreiche Institution wie der ESC wird zwar sicher nicht durch ein, zwei Jahre Schieflage zerstört, aber es wird Zeit, dass es mal wieder in die andere Richtung geht.
Zurück zum diesjährigen Jahrgang und den Darbietungen: Bei den Buchmachern gilt Schweden als der große Favorit. Bei euch auch?
Schmidtner: Nachvollziehen kann ich das schon, weil der schwedische Beitrag so eine richtige Hymne ist, die alles hat, was man in den drei Minuten auf der Bühne bieten muss. Man kann nach drei Minuten mitsingen, man hat auch den Text ein wenig verstanden und schmunzelt ein bisschen. Allerdings erlischt dieser Effekt auch schnell wieder. Uns hat der Beitrag deshalb nicht abgeholt. Ich kann mir aber vorstellen, dass viele für ihn anrufen werden und er recht weit vorne landet.
Schulte: Das richtet sich gar nicht gegen den Song an sich. Der macht schon Spaß, aber ist eben auch ziemlich altmodisch. Ich wippe da auch mit, will ihn aber nicht als Siegertitel haben.
Wer ist euer Favorit?
Schmidtner: Neben Schweden ist das definitiv Österreich. Bei den Buchmachern wird das Lied zwar bei weitem nicht so hoch eingeschätzt, aber in der Fanszene ist es extrem hoch angesehen. Es ist in gewisser Weise der Nachfolgesong des letztjährigen Siegertitels: Ein Sopran singt über eine vertane Liebe und betreibt in den höchsten Tönen stimmliche Akrobatik. Das hinterlässt auf jeden Fall Eindruck, muss aber nicht unbedingt gewinnen. Den israelischen Beitrag finde ich hervorragend und ein Geheimtipp ist das Lied aus Holland, das in drei Sprachen alles bunt zusammenwürfelt. Dadurch bleibt der Text sofort hängen.
Schulte: Unser „Guilty Pleasure“ ist natürlich Australien. Der „Milkshake Man“ macht einfach gute Laune und hat eine Show, die uns abholt.
Schmidtner: Ja, wir mögen Milkshake. Go-Jo heißt der Interpret, der schon weit Wochen in den sozialen Medien gute Laune verbreitet. Den mögen wir beide sehr. Leider hat er es nicht ins Finale geschafft.
Zum Schluss natürlich die wichtigste Frage: Wie werden Abor und Tynna mit „Baller“ abschneiden?
Schulte: Ich denke, das wird ein ganzes Stück von der Performance abhängen. „Baller“ könnte wieder ein „Black Horse“ sein, das von den Buchmachern zu tief eingeschätzt wird. Wenn der Auftritt gut ist, traue ich den beiden schon zu, auf der linken Seite des Scoreboards zu landen.
Schmidtner: Ganz sicher landen sie nicht auf dem letzten Platz. Ganz sicher werden sie nicht gewinnen. Dazwischen kann alles passieren. Mit sehr viel Glück schaffen sie es in die Top Ten.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.