"Nicht die Opposition, sondern die Regierung hat den Eurovision Song Contest politisiert"
Marc Schulte und Martin Schmittmer berichten in ihrem Blog auf vorwärts.de vom Eurovision Song Contest in Baku. Auf einer Konferenz sprachen dort jetzt zum ersten Mal Vertreter der Regierung mit Oppositionsvertretern über die Menschenrechtslage in Aserbaidschan.
Zugegeben – es ist nicht einfach: da erfreuen wir uns gerade an den ersten Probentagen, sitzen Stunde um Stunde in der Crystal Hall oder im Pressezentrum ab und werden, sobald wir zurück in die Stadt fahren, fast erschlagen von der überwältigenden Freundlichkeit der Menschen hier, die uns auf der Straße „Welcome to Baku“ wünschen oder den vorbeifahrenden Eurovisions-Bussen zuwinken. In den verstopften Straßen ertönt bisweilen Eurovision-Musik aus den dröhnenden Autolautsprechern und schalten wir den Fernseher ein, läuft da auch gerade Eurovision. – Ein Volk unter Gehirnwäsche? Mitnichten. Es ist ein Ausdruck von Nationalstolz, der sich hier von seiner positiven Seite zeigt und ein Ausdruck von Neugier auf die Fremden, die zum ersten Mal in solcher Zahl das Land besuchen.
Also alles nur Hysterie in Deutschland? Die Debatte um Menschenrechte und einen ESC-Boykott? Nein, denn was wir hier live gar nicht mitbekommen in unserem Eurovision-Universum, das lesen wir später im ESC-Blog von queer.de: es hat bereits einen Versuch einer Demonstration der aserbaidschanischen Opposition gegeben und etwa 10 Menschen sollen verhaftet worden sein. Deshalb stand heute ein wichtiger Termin außerhalb der Crystal Hall auf dem Programm: das Menschenrechtsbündnis Sing for Democracy hatte zu einer Konferenz geladen. Titel der Veranstaltung: Menschenrechte in Aserbaidschan: derzeitige Probleme und zukünftige Perspektiven.
Und da wir bekanntlich zu den „politisch beinahe Übersensibilisierten“ gehören, wie NDR-Chefblogger Feddersen jene Menschen nennt, „die ihre Kameras und Mikrophone zu Veranstaltungen wie ‚Sing for Democracy’ schleppen und von dort berichten“, machten wir uns auf den Weg in den Konferenzsaal des Park Inn Hotels in Baku. Und es erwartete uns eine Überraschung: keine Polizeiabsperrung, keine Kontrolle oder Schikane, sondern ein professionell ausgestatteter und vorbereiteter Konferenzsaal. Etwa 50 Plätze am großen Tagungstisch, belegt von ungefähr 43 Männern und 7 Frauen und am Rande Zuschauer und Presse.
Gute 4 Stunden dauerte die Konferenz, die in 3 Diskussionsrunden gegliedert war: Meinungsfreiheit und Sicherheit für Journalisten, Verletzungen von politischen und ökonomischen Freiheitsrechten sowie Lokale und internationale Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte.
Womit niemand wirklich gerechnet hatte: tatsächlich waren auch Regierungsvertreter zur Veranstaltung angerückt. Veranstalter Rasul Jafarov berichtete uns hinterher, dass die Regierung zunächst eine Beteilung verweigert hatte. Heute Morgen wurden dann telefonisch 2 Vertreter angekündigt – tatsächlich erschienen schließlich 5 hochrangige Regierungsvertreter aus verschiedenen Administrationen, dem Justizministerium sowie der Leiter des Bereichs Medien der Staatskanzlei. Unterstützt wurden sie von einer Vielzahl an Vertretern regierungsfreundlicher Medien.
Jafarov wie auch andere Teilnehmer der Veranstaltung werteten dies als einen noch nie da gewesenen historischen Moment, denn bisher habe die Regierung sich auf keine Gespräche eingelassen – natürlich sind sich aber auch alle bewusst, dass dies dem Song Contest und der ihn begleitenden medialen Präsenz geschuldet war. Dennoch ein großer Erfolg für die Nichtregierungs-Organisationen, deren bisherige Erfahrungen die waren, dass es entweder gar keine Räumlichkeiten anzumieten gab oder nach erfolgreicher Anmietung plötzlich der Strom ausfiel und schon gar nicht, dass Regierungsvertreter sich mit an den Tisch setzten.
Natürlich lief dies nicht harmonisch ab – immer wieder gab es lautstarke Proteste und Zwischenrufe der Regierungs- und auch zahlreicher regierungsfreundlichen Medienvertreter. Die Veranstalter hatten ein striktes Konzept mit exakten Redezeiten angekündigt und hielten diese Linie dann auch durch – doch wider Erwarten blieben alle an den Tischen, niemand verließ den Saal und zwischendurch kam schon mal so etwas wie eine Diskussion zustande.
Wie die Mechanismen hier ablaufen, konnten wir am besten am Fall der Journalistin Khadija Ismayilova sehen, die heute über Gefahren und Probleme des investigativen Journalismus sprach. Diese Gefahren hatte sie selbst auf übelste Art und Weise zu spüren bekommen. Am 7. März erreichte sie ein anonymer Drohbrief mit sechs heimlich aufgenommen intimen Fotos, in dem sie als „Hure“ bezeichnet und mit „Entehrung“ gedroht wurde, sollte sie sich nicht „benehmen“. Bereits eine Woche später wurde ein Video ins Internet gestellt, das sie beim Sex mit ihrem Partner zeigt. Zeitgleich berichteten zwei regierungsfreundliche Zeitungen über ihre zügellose Moral und gaben Hinweise, wo im Netz das Video gefunden werden konnte.
Ismayilova berichtete, dass sie sowohl in ihrem Schlafzimmer als auch über ihrer Dusche entsprechendes technisches Equipment gefunden habe. Zwar nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen unbekannten kriminellen Einzeltäter auf, betrieb aber ihre Ermittlungsarbeit vor allem im Freundes- und Bekanntenkreis der Journalistin, indem sie diese zu deren Sexualleben und Gewohnheiten befragte.
Khadijah Ismayilova hatte aufgedeckt, dass die Präsidentengattin, der laut aserbaidschanischem Recht Firmenbeteiligungen untersagt sind, in Panama unter 5 Firmen registriert ist. Sie ist sich deshalb sicher, dass hinter der Diffamierungskampagne das Ministerium für nationale Sicherheit beziehungsweise die Staatskanzlei des Präsidenten stecke. An dieser Stelle gab es lautstarke Tumulte der Regierungsfreunde im Saal; ein Vertreter des Justizministeriums erdreistete sich nicht, der Journalistin die Schuld an dem Video selbst zuzuschieben, indem er betonte, wie konträr ihre moralische Einstellung doch zum Rest der Frauen des Landes stünde. Ihr Privatleben sei ihre Sache, konterte die Journalistin. Nein, erwiderte ein Vertreter des Regierungssenders, sie habe schließlich auch über die Familie des Präsidenten geschrieben.
Die Polemik der regierungsfreundlichen Konferenzteilnehmer bewegt sich auch im Rest der 4 Stunden immer zwischen Moral („die Diskussionsleitung zeigt einen verabscheuungswürdigen Charakter und hat private Probleme“) und Vaterlandsverrat (5. Kolonne). Denn immer wenn gar nichts mehr geht, wird der Armenien-Knüppel aus dem Sack geholt – warum niemand über die Menschenrechte der Flüchtlinge aus Karabach spräche und dass die ganze Veranstaltung ja nur dem Zwecke diene, der ausländischen Presse die Gelegenheit zu Kritik und Angriffen auf Aserbaidschan zu geben. Beweis dafür sei, dass es eine Simultanübersetzung gäbe.
Aber dass die Konferenz stattfinden könne, das müsse der ausländischen Presse doch zeigen, wie demokratisch Aserbaidschan sei. („Wir haben hier Freiheit, aber manche missbrauchen sie“). Namentlich wurden als Feinde Aserbaidschans und Betreiber der „Schmutzkampagne“ Frankreich (Genoziddebatte), Deutschland und Großbritannien genannt. Die Veranstalter der Konferenz blieben zum Glück bewundernswert gelassen und konterten alle Vorwürfe an die Diskussionsleitung damit, dass sie gerne bereit seien, auch in regierungsfreundlichen TV-Sendern oder Medien an Diskussionen teilzunehmen, die dann gerne zu deren Bedingungen ablaufen dürften. Gut vorbereitet und souverän wirkten die NGO-VertreterInnen im Gegensatz zur administrativen Seite.
Und dann rückte Deutschland ins Visier: Als letzter Redner war der Menschenrechtsbeauftragte der Grünen Volker Beck geladen, der über das Bild Aserbaidschans im Ausland referieren sollte. Für uns ein zwiespältiger Auftritt, trotz unseres Respekts für Volker Becks Engagement in Sachen Baku. Irgendwie scheint Beck nichts von der Atmosphäre im Saal und Land gespürt zu haben. Während sich alle Rednerinnen und Redner vor ihm äußerst nüchterne Fakten präsentierten und diplomatisch, aber nicht minder deutlich ihre Kritik anbrachten, füllte Beck seine Redezeit mit dem Verlesen einer Ansprache, die allzu sehr wie ein schneller Import von außen wirkte.
Für den aserbaidschanischen Stolz sicher schwer zu ertragen. Und für die Opposition, die eh schon mit den Vorwürfen einer ausländischen Steuerung zu kämpfen hat, eventuell eher ein Bärendienst. Diplomatisches Agieren wäre eventuell angebracht gewesen, wie es einer der Vorredner, Alaskar Mammadii zuvor als beste Strategie für Aserbaidschan vorgeschlagen hatte. Nicht Diplomatie im Sinne Westerwelles, die Menschenrechtsfragen zu oft unter den Tisch fallen lässt, keine Diplomatie des Verschweigens, sondern die Diplomatie, dringend notwendige Kritik mit Respekt vor den Befindlichkeiten einer fremden Kultur zu verbindet.
Beck betonte, nicht für die deutsche Regierung zu sprechen – der deutsche Botschafter in Baku, Herbert Quelle, nahm als Zuhörer an der Konferenz teil. Und bekam so auch die ganze Lawine wüster Beschimpfungen als Reaktion mit, die wieder mit den schon vor Wochen verbreiteten Vorwürfen konterte: Tränengas gegen Demonstranten, Arbeitslosigkeit, Neonazis, Neue Armut – Deutschland solle sich erst mal um sich selbst kümmern.
Hier allerdings antwortete Beck dann in freier Argumentation äußerst überzeugend und machte deutlich, dass dies eben in einem gemeinsamen Europa möglich sein muss: sich gegenseitig auch zu kritisieren, und dass er selbst natürlich in Deutschland ebensolche Kritik äußert, wenn Menschen- und Bürgerrechte verletzt werden. Nein, natürlich wird der ESC die Menschenrechtssituation hier in Aserbaidschan nicht ändern, aber über all den Konfrontationen heute lag doch ein Stolz der Veranstalter auf das Erreichte. Enttäuscht hat lediglich das Interesse der zum ESC angereisten Medienvertreter. Neben einigen deutschen Medien und der BBC war nicht viel mehr vertreten – wenn der Song Contest, wie es die Gegner eines Baku-Boykotts in den letzten Monaten immer wieder betont haben, auf Kennen lernen und Kommunikation statt auf zu starke Politisierung setzen will, dann wäre dies eine Gelegenheit dazu gewesen. Zumal die aserbaidschanische Regierung den Song Contest in den vergangenen Monaten ganz unverblümt politisiert hat, indem sie ihn zum Nahezu-Staatsakt erhoben hat. Im Laufe der Woche sollen noch verschiedene Veranstaltungen und Aktionen folgen.
Wir fragten Rasul Jafarov nach der Konferenz, wie es mit der Kampagne weitergeht und ob er Reaktionen der am ESC teilnehmenden KünstlerInnen und Delegationen als Antwort auf seine Videopetition erhalten habe. Richtig glücklich wirkt er bei der Frage nicht – erwartungsgemäß war die Resonanz eher gering, aber es gab immerhin ein paar wenige aufmunternde Botschaften von Seiten einiger Delegationsleitungen und eventuell wird es von Künstlerseite zumindest eine Solidaritätsadresse geben.
Darüber hinaus wollen Mitglieder der Kampagne im Laufe der nächsten Tage immer wieder in kleineren Gruppen mit dem T-Shirt der Kampagne bekleidet, durch die Innenstadt oder auf größere Plätze gehen, um entweder ihre Botschaft auf die Strasse zu tragen oder aber zu sehen, ob schon das Tragen eines T-Shirts zu Verhaftungen führen kann. Und schließlich soll am Sonntag, 20.5. um 19 Uhr das angekündigte Konzert der Kampagne stattfinden. Der Ort wird wohl im Laufe der nächsten Tage auf der Website von Sing for Democracy bekannt gegeben.
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