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Ein Jahr danach: Wie das Massaker vom 7. Oktober Israel verändert hat

Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die israelische Gesellschaft weiter gespalten, sagt Judith Stelmach von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme durch die Zuspitzung des Konflikts mit den Nachbarstaaten. Trotzdem sieht Stelmach Grund für Optimismus.

von Alexander Isele · 7. Oktober 2024
Seit einem Jahr Geisel der Hamas: Protestierende in Jerusalem fordern von Ministerpräsident Netanjahu ein Abkommen, um die Entführten frei zu bekommen.

Seit einem Jahr Geisel der Hamas: Protestierende in Jerusalem fordern von Ministerpräsident Netanjahu ein Abkommen, um die Entführten frei zu bekommen.

Vor einem Jahr richtete die Hamas in Israel ein Blutbad an und entführte Dutzende Menschen. Noch immer ist das Schicksal vieler Geiseln ungewiss. Was hat das vergangene Jahr mit der israelischen Gesellschaft gemacht?

Die Gesellschaft wurde komplett aus der Bahn geworfen – in nahezu jeder Hinsicht. Vor allem das Vertrauen zwischen der Bevölkerung und dem Staat ist massiv erschüttert. Was bisher als selbstverständlich angesehen wurde – nämlich dass der Staat seine Bürgerinnen und Bürger schützt – ist nicht eingetreten. Dieses Gefühl der Verlassenheit ist keine Einbildung, sondern Realität. Es herrscht große Verwirrung darüber, wo die israelische Gesellschaft jetzt steht und was von dem Selbstverständnis, das bis zum 7. Oktober existierte, noch übrig ist. Jeder in Israel ist betroffen, entweder direkt oder indirekt, weil fast jeder jemanden kennt, der von den Ereignissen getroffen wurde.

Auch wirtschaftlich und gesellschaftlich hat sich das Leben grundlegend verändert. Viele Menschen mussten über Nacht ihre Häuser verlassen und wissen nicht, ob sie jemals zurückkehren können. In Europa wurde lange nicht wahrgenommen, dass nicht nur der Süden betroffen war, sondern auch der Norden des Landes. 68.500 Menschen können dort bis heute nicht zurück. Auch von den ursprünglich rund 75.000 Evakuierten im Süden des Landes kann circa ein Drittel nach wie vor nicht zurückkehren.

Judith
Stelmach

Die israelische Gesellschaft steckt in einer tiefen Krise.

Die israelische Gesellschaft steckt in einer tiefen Krise. Bereits vor dem 7. Oktoberwar sie durch die Debatte über die Justizreform gespalten, die von ihren Gegnern als Justizumwälzung bezeichnet wird. Diese Spaltung war schon schwerwiegend, doch nun ist das Desaster vom 7. Oktober hinzugekommen. Anfangs führte das zu einer Gegenbewegung: Es gab ein Gefühl des Zusammenhalts, und die Zivilgesellschaft hat beeindruckende Solidarität gezeigt – was notwendig war, da die Regierung und die Ministerien in den ersten Tagen und Wochen nicht funktionierten. Mit der Zeit sind jedoch auch die unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie man aus dieser Krise herauskommt, immer deutlicher geworden. Diese Differenzen haben die gesellschaftliche Spaltung mit den Monaten noch vertieft.

Wie macht sich die Spaltung im Land bemerkbar?

Das hängt von der Ebene ab. Tatsächlich gibt es zwei große Gruppen: diejenigen, die die Regierung ablehnen und Neuwahlen sowie den Rücktritt Netanjahus fordern, und jene, die eine Ausweitung der Siedlungspolitik und sogar eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens anstreben. Im Alltag sind die Berührungspunkte zwischen diesen Gruppen aber nicht besonders groß, schon allein geografisch. 

Die Siedler leben vor allem in den Siedlungen im Westjordanland, während die Regierungsgegner eher aus der bürgerlichen Mittelschicht kommen und im Zentrum des Landes oder in den nördlichen Regionen leben. Deshalb begegnen sich die beiden Gruppen selten direkt. Allerdings sind die Meinungsunterschiede durch die Medien und öffentliche Diskussionen sehr präsent. Bei Demonstrationen kommt es auch immer wieder zu Auseinandersetzungen mit kleineren extremistischen Gruppen, die versuchen, die Proteste gegen die Regierung zu stören.

Was fordern die Demonstrierenden?

In den letzten Wochen hat sich der thematische Schwerpunkt der Demonstrationen verändert. Es geht inzwischen stärker um die Freilassung der Geiseln und ein mögliches Abkommen, während Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung etwas in den Hintergrund gerückt sind. Nachdem Ende August bekannt wurde, dass sechs Geiseln ermordet in einem Tunnel im Gazastreifen aufgefunden wurden, war die Empörung in der israelischen Bevölkerung enorm.

Die Geiselbefreiung wurde zum vordringlichsten Thema, und die Lager, abgesehen von den extremen Gruppen, rückten näher zusammen. Trotzdem gibt es weiterhin Unsicherheiten, wie ein sinnvoller Deal zur Freilassung der Geiseln aussehen könnte, und die Angst, dass nicht alle Geiseln zurückkehren könnten, bleibt groß.

Gefühlsmäßig wissen die meisten, dass die aktuelle Situation nicht gut ist. Die Diskussionen, die oft sowohl emotional als auch sachlich geführt werden, spiegeln diese Unsicherheit wider. Dazu kommt eine tiefe Trauer, die in den letzten Tagen stärker in den Vordergrund rückt, da der Jahrestag des Massakers näherkommt. Gedenkveranstaltungen haben bereits begonnen. Viele Menschen schwanken zwischen kurzen Momenten der Hoffnung, wenn es positive Meldungen gibt, und der Enttäuschung, wenn diese Hoffnungen schnell zunichtegemacht werden.

Der Tod von Hisbollah-Führern mag als Erfolg gewertet werden, aber die Frage bleibt: Was bedeutet das für die Geiseln, die noch nicht befreit sind? Und wie kann die Sicherheit der israelischen Bevölkerung gewährleistet werden – insbesondere nun auch angesichts des massiven Raketenbeschusses durch den Iran am Dienstag und der Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Krieges?

Die jüngsten Schläge gegen die Hisbollah zeigen, dass Israel doch noch militärische Erfolge erzielen kann. Wie wird das in der israelischen Gesellschaft aufgenommen?

Es gibt definitiv Erleichterung, dass die Armee jetzt die Initiative ergriffen hat. Vorher herrschte das Gefühl, dass der Norden Israels im Stich gelassen wurde und die Regierung sich nicht ausreichend um das Schicksal der Menschen kümmert, die ihre Heimat verlassen mussten oder weiterhin unter ständigem Raketenbeschuss leben. Die Evakuierungen betrafen nur Siedlungen, die weniger als vier Kilometer von der Grenze entfernt liegen, was angesichts der Reichweite der Raketen, die weite Teile des Landes erreichen können, sogar Jerusalem, absurd ist. Viele Israelis können sich den Alltag dort kaum vorstellen, wo ständige Raketenalarme vorherrschen und die Angst etwa um das Leben der eigenen Kinder, die zur Schule müssen, den Alltag bestimmt. Die Bedrohung, unter der diese Menschen leben, ist real und beständig.

Judith
Stelmach

Die Tötung von Hisbollah-Führern wie Nasrallah sorgt für Erleichterung, aber das ist nur ein kleiner Moment des Aufatmens.

Die Wirtschaft im Norden leidet ebenfalls massiv. Viele Menschen haben ihre Einkommensquellen verloren, und es ist unklar, wie der Wiederaufbau organisiert werden soll. Deshalb sind viele erleichtert, dass die Armee jetzt aktiv geworden ist. Auch die Tötung von Hisbollah-Führern wie Nasrallah sorgt für Erleichterung, aber das ist nur ein kleiner Moment des Aufatmens. Die große Sorge bleibt, wie es weitergeht. Niemand glaubt, dass allein durch die Ausschaltung von Führungsfiguren Frieden erreicht wird. Naivität gibt es hier nicht mehr. Es ist klar, dass dies kein schneller Weg zum Frieden ist. Die meisten Israelis wollen einfach nur wieder sicher in ihren Häusern leben und wissen, dass auf die militärische Aktion diplomatische Bemühungen und nachhaltige Abkommen folgen müssen.

Im vergangenen Jahr ist Israel international stark in die Kritik geraten und teilweise isoliert worden. Bei Netanjahus Rede vor der UN haben Vertreter von vielen Ländern den Saal verlassen. Fühlt sich die israelische Bevölkerung im Stich gelassen?

Das Gefühl ist weit verbreitet, dass doppelte Standards gegen Israel angewandt werden. Die meisten Israelis, abgesehen von ein paar Extremisten, sind sich durchaus bewusst, dass die israelische Armee nicht fehlerfrei ist und dass es zu viele zivile Opfer gab. Dennoch bleibt das vorherrschende Gefühl, dass Israel angegriffen wurde und weiterhin unter Beschuss steht, weshalb es jedes Recht auf Selbstverteidigung hat. Die Erwartung der internationalen Gemeinschaft, Israel solle einfach stillhalten und die zweite Wange hinhalten, wird als unrealistisch und unfair empfunden – zumal es gleichzeitig oft an einer ebenso starken Kritik an Gruppen wie der Hamas oder der Hisbollah fehlt. Es herrscht der Eindruck, dass Israel immer als der Bösewicht dargestellt wird, während die anderen Akteure als die Schwächeren oder gar die „Armen“ wahrgenommen werden. Diese Unausgewogenheit sorgt für viel Frustration.

Viele israelische Regierungsmitglieder haben sich im vergangenen Jahr mit sehr menschenverachtender Rhetorik hervorgetan. Spiegelt das die Meinung der Bevölkerung wider?

Nur eine kleine Minderheit unterstützt solche Aussagen. Es ist zwar verständlich, dass gerade nur wenige Empathie für die andere Seite aufbringen können, da viele mit ihrem eigenen Leid und dem eigenen Schmerz beschäftigt sind, aber diese extremen Äußerungen spiegeln nicht die Mehrheit wider. Die gesamte Opposition und alle linken, liberalen und progressiven Kräfte lehnen solche Stellungnahmen ab. Selbst innerhalb der Likud-Partei gibt es noch einige – wenn auch nicht viele – Stimmen, die sich öffentlich gegen diese Rhetorik gestellt haben.

Judith
Stelmach

Der massive Schlag gegen die Führung der Hisbollah bietet eine Chance für Bewegung im Konflikt.

Iran hat Israel mit circa 180 Raketen angegriffen. Wie ist die Situation im Land?

Der Raketenangriff aus dem Iran hat erstmals seit Kriegsausbruch dazu geführt, dass die Menschen beinahe in ganz Israel in die Schutzräume geschickt wurden, da aufgrund der Ungenauigkeit der iranischen Raketen das Heimatfrontkommando keine unnötigen Risiken eingehen wollte. Dank der israelischen Luftabwehr und der Unterstützung durch die USA konnten beinahe alle Raketen unschädlich gemacht werden. Außer einem Palästinenser, der nahe Jericho von einem Raketensplitter getötet wurde, gab es keine Todesopfer zu beklagen.

Aber die Sorge in der israelischen Bevölkerung ist natürlich groß. Kurz vor dem Raketenangriff verübten zwei Hamas-Terroristen einen Anschlag in Jaffa, bei dem sieben Menschen ermordet und viele verletzt wurden. Die Gewalt nimmt kein Ende, und die Menschen sind erschöpft, traurig und angesichts der Gefahr einer weiteren Eskalation oder gar eines regionalen Krieges sehr angespannt. Kein schöner Auftakt für das neue jüdische Jahr, das am Mittwochabend in sehr gedrückter Stimmung begonnen hat.

Nach einem Jahr dieses Vielfrontenkrieges, haben Sie noch Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts?

Wie Viktor Frankl sagte: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, und daran halte ich fest. Ohne Hoffnung wäre es unmöglich, morgens aufzustehen. Ich glaube nicht, dass diese Hoffnung unrealistisch ist, denn es liegt im Interesse aller Beteiligten, eine Lösung zu finden. Ich bin überzeugt, dass sowohl in der israelischen, der palästinensischen als auch in der libanesischen Bevölkerung die Mehrheit Frieden will. Es wird kein naiver, idyllischer Frieden sein, aber im Kern wollen die Menschen weltweit dasselbe: ein gutes Leben. Sie wollen ihre Kinder sicher aufwachsen sehen und eine positive Zukunft. Und dafür braucht es Frieden.

Ich bin zuversichtlich, dass eine Lösung möglich ist, vielleicht sogar mehr denn je. Der jüngste Raketenangriff aus dem Iran hat der Welt das Aggressionspotenzial des Ajatollah-Regimes klar vor Augen geführt und könnte zu einer verstärkten internationalen Bemühung führen, diese Gefahr einzudämmen. Der massive Schlag gegen die Führung der Hisbollah bietet eine Chance für Bewegung im Konflikt. Interessanterweise hat der libanesische Ministerpräsident Najib Mikati nach einem Gespräch mit dem schiitischen Parlamentspräsidenten Nabih Berri öffentlich seine Unterstützung für die Umsetzung der UN-Resolution 1701 bekundet, laut der die libanesische Armee für die Sicherheit im Süden des Landes sorgen und die Hisbollah sich hinter den Litani-Fluss zurückziehen soll. Diese Signale machen mich optimistisch. Ob die Chance genutzt wird, bleibt abzuwarten. Aber sie ist da.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

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Alexander Isele

ist seit 2022 Redakteur beim IPG-Journal. Zuvor arbeitete er als Redakteur bei der Tageszeitung nd-aktuell und als freier Journalist.

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Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Di., 08.10.2024 - 11:07

Permalink

"Viele israelische Regierungsmitglieder haben sich im vergangenen Jahr mit sehr menschenverachtender Rhetorik hervorgetan. "

Na dann ist ja gut, das wir diese Regierung bedingungslos unterstützen. Das ist schließlich die Lehre aus unserer Geschichte. Da ist es dann auch nicht schlimm, wenn das Vorgehen der "moralischsten Armee der Welt" 10 mal mehr Opfer fordert, als der barbarische Terrororakt der Hamas.

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