Kultur

„All We Imagine As Light”: Magisches Drama über den Kampf um Autonomie

Drei Frauen und ihre Nöte in der indischen Boomtown Mumbai: Ganz aus weiblicher Perspektive erzählt der Kinofilm „All We Imagine As Light” vom Kampf um ein Leben jenseits gesellschaftlicher Konventionen.

von Nils Michaelis · 13. Dezember 2024
All We Imagine As Light

Die Großstadtbewohnerin Prabha (Kani Kusruti) ist hin und hergerissen zwischen Selbstbestimmung und Tradition.

Was zu viel ist, ist zu viel. Von einem Werbeplakat für ein weiteres hochwertiges Immobilienprojekt in Indiens Megacity Mumbai grinsen schöne junge Menschen. Sie illustrieren den Slogan „Klasse ist ein Privileg, reserviert für die Privilegierten“. Parvaty nimmt einen Stein und schleudert ihn auf das verhasste Plakat. Ihre Freundin Prabha tut es ihr gleich. Die beiden Frauen haben großen Spaß an dem rebellischen Akt.

Prabha und Parvaty sind von der Zielgruppe für Luxuswohnungen denkbar weit entfernt. Sie gehören zum Heer der Menschen, die unablässig aus der Provinz in die 15-Millionen-Metropole strömen, um dort wenig lukrativen Jobs nachzugehen. Die beiden Frauen arbeiten als Krankenschwestern. Weil ihre Wohnung luxussaniert wird, muss Parvaty zurück aufs Land ziehen. Prabhas Lage ist zumindest etwas günstiger. Ihr Mann hat eine Beschäftigung in Deutschland, materiell kann sie nicht klagen. Ihre Wohnung teilt sie sich mit ihrer jüngeren Kollegin Anu.

Der Film „All We Imagine As Light” erzählt davon, wie diese drei Frauen jeweils auf ihre Weise ihren Platz in der indischen Gesellschaft suchen. Es ist das Porträt einer Freundschaft zwischen drei sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten. Zugleich entwirft die indische Regisseurin und Drehbuchautorin Payal Kapadia ein Spiegelbild einer Gesellschaft, in der Unterprivilegierte im Allgemeinen und Frauen im Besonderen darum kämpfen müssen, nicht an den Rand gedrängt zu werden oder fremdbestimmt zu leben. 

Die Fesseln von Traditionen

Es geht um den Zwiespalt zwischen dem Drang nach Autonomie, die selbstbestimmte Liebe einschließt, und der Macht der Traditionen. In Mumbai, wo ganze Stadtviertel für hochpreisige Wohnungen planiert werden, zeigt sich all dies wie in einem Brennglas. So gesehen haben wir es auch mit einem Porträt der boomenden Metropole zu tun. 

Konträrer könnten Anu und Prabha kaum gelagert sein. Die Jüngere verzehrt sich nach ihrem Liebsten und scheut keine Mühe, um ihn heimlich zu treffen. Die sozialen Konventionen machen es dem unverheirateten Paar nicht einfach. Die Ältere hingegen schottet sich gegenüber allen männlichen Annäherungsversuchen  ab. Prabha fühlt sich den Traditionen ihrer Kaste, aber auch ihrem Mann verpflichtet, den sie seit Jahren nicht gesehen hat. Eines Tages fingert sie einen Reiskocher aus einem Paket aus Deutschland – ein geradezu magisches Erlebnis, wie sich im Nachhinein zeigen wird. Das Geschenk des Gatten setzt bei Prabha eine Entwicklung in Gang, die sie völlig neu auf ihr Leben blicken lässt.

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Auch die beiden anderen Frauen treten gewissermaßen aus dem Dunkel ans Licht. Möglich macht dies ein Ortswechsel: Prabha und Anu besuchen Parvaty in ihrer neuen alten Heimat am Meer. Dort erfüllen sich ihre Sehnsüchte und sie erleben eine ungeahnte Freiheit. Insofern wird das Klischee, allein in der Stadt sei die allumfassende Selbstentfaltung möglich, auf den Kopf. 

Schattenseiten einer aufstrebenden Macht

Payal Kapadia porträtiert die gesellschaftlichen Schattenseiten der aufstrebenden Macht Indien komplett aus weiblicher Perspektive. Die Erfahrungswelt jener drei Frauen bildet den Rahmen für alles Weitere. Dieser Blick ist äußerst erkenntnisreich und erfrischend, wird hier doch schließlich auch die Kraft der Solidarität deutlich. Auch, indem gezeigt wird, dass Prabha, Anu und Parvaty zumindest mit ihren Interessen als Arbeitnehmer*innen nicht allein sind. 

Auf sehr subtile Art stellt der Film Verbindungen zwischen der inneren und äußeren Welt der facettenreichen Protagonistinnen her. Payal Kapadia will ihr Spielfilmdebüt aber nicht als politischen Film verstanden wissen, zumindest nicht auf eine „direkte Art“, wie sie laut Presseheft bemerkt. 

Die Liebe in Indien sei allerdings eine extrem politische Angelegenheit. „Ich würde also nicht sagen, dass dieser Film nicht politisch ist. Wen man heiraten kann, ist sehr komplex: Hier spielen Fragen nach Kaste und Religion eine große Rolle, die diktieren, mit wem man sein Leben verbringen, und welche Konsequenzen das haben kann.“

Die rätselhafte Magie von Mumbai

„All We Imagine As Light” lebt nicht zuletzt von starken Bildern und kräftigen Farben: Immer wieder sind die Gesichter der Frauen in Großaufnahmen zu sehen. Sie treten in Beziehung zu Motiven, die die rätselhafte Magie von Mumbai transportieren: Das Häusermeer versinkt im Dauerregen des Monsuns, nachts verirrt sich das Auge im Meer schwirrender Lichter. Der Abstecher an die Küste sortiert auch visuell einiges neu. 

Eine durchaus komplexe emotionale und soziale Gemengelage wird in diesem Film, der bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes den Großen Preis der Jury gewann, anschaulich gemacht. Anstatt die Geschichte inhaltlich zu überfrachten, bleibt einiges im Ungefähren. Den Rest besorgt die von einer eindringlichen Bilderwelt beflügelte Fantasie. Noch so ein magisches Erlebnis.

„All We Imagine As Light” (Frankreich/Indien/Niederlande/Luxemburg 2024), ein Film von Payal Kapadia, mit Kani Kusruti, Divya Prabhia, Chhaya Kadam u.a., 115 Minuten, OmU.

Kinostart: 19. Dezember 

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