Indien: Was die größte Wahl der Welt für Deutschland bedeutet
Die Parlamentswahl in Indien ist die weltweit größte aller Zeiten. Zugleich geht Premierminister Modi als haushoher Favorit ins Rennen. Das hat insbesondere ökonomische Gründe – und Auswirkungen auch auf Deutschland.
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Premierminister Narendra Modi besitzt in Indien gute Chancen auf eine Wiederwahl.
Es ist die größte Wahl der Geschichte: Im bevölkerungsreichsten Land der Erde finden seit dem 19. April die Wahlen zur 18. Lok Sabha statt, zum Unterhaus des indischen Parlamentes. Fast eine Milliarde Menschen wählen in sieben Phasen und über sieben Wochen hinweg 543 Volksvertreter*innen – sogar die indischen Parlamentswahlen des Jahres 2019 werden mit noch mal rund 150 Millionen neuen Wahlberechtigten übertroffen. Der amtierende Premierminister Narendra Modi der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) kandidiert für eine dritte Amtszeit und geht als klarer Favorit ins Rennen. Es bleibt dennoch spannend.
Die größte Wahl der Geschichte
In der langen Liste der indischen Premierminister*innen stechen drei besonders heraus: Jawaharla Nehru, der erste Premierminister Indiens (1947 bis 1964), seine Tochter Indira Gandhi (1966 bis 1977 und 1980 bis 1984) und Narendra Modi, der aktuell wohl populärste Politiker der Welt. Alle drei verbindet, dass sie in einem Land voller Unterschiede und kaum beschreibbarer Diversität breite Mehrheiten hinter sich vereinen konnten und Barrieren von Religion, Kastenwesen, Klasse und Geschlecht überwunden haben.
Analog zu seinem persönlichen Aufstieg vom Sohn eines Teeverkäufers zum Premierminister präsentiert sich Modi – und damit seine Regierungspartei – vor der Wahl als Schaffer des aufstrebenden Landes: eines Indiens, das die Verankerung im Hinduismus betont. Eines Indiens, das die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien als fünftgrößte Ökonomie der Welt überholt hat – die vierte Nation überhaupt, die auf dem Mond landete. Eines Indiens, das während des G20-Vorsitzes eindrucksvoll gezeigt hat, welch zunehmend bedeutende Rolle es in der Welt einnimmt. „Und so ist dieses Indien unaufhaltsam, dieses Indien ist unermüdlich, dieses Indien keucht nicht und dieses Indien gibt nicht auf“ – so beschrieb Modi das aufstrebende Indien am Unabhängigkeitstag am 15. August 2023.
Versprechen: drittgrößte Ökonomie der Welt
Das Wahlprogramm der BJP zur anstehenden Parlamentswahl setzt hier an und verwebt identitätspolitische Narrative mit ökonomischen Wachstumsbildern, aber auch klassischer entwicklungspolitischer Agenda. Im „unermüdlichen Indien“ sollen die Jugend, Arme, Bauern und Frauen im Zentrum der nächsten Schritte der Entwicklung stehen – Menschen, die sich im aktuellen Indien immer noch großen Herausforderungen gegenübersehen, aber zu großen Teilen für die BJP stimmen. Der ländliche Raum – beispielsweise im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh – spielt eine wahlentscheidende Rolle. Bedürftige sollen auch weiterhin Nahrungsrationen und staatliche Unterstützung erhalten.
Gleichzeitig verspricht die BJP, dass Indien bis zum Ende des Jahrzehnts die drittgrößte Ökonomie der Welt werde und dass die enorme Infrastrukturentwicklung (Straßen, Flughäfen, Städte) weiterhin vorangetrieben werden soll. Die wachsende Mittelschicht und Konsumgesellschaft soll – neben dem versprochenen Wirtschaftswachstum – von Digitalisierung, dem Abbau von Bürokratie und der Bekämpfung von Korruption und Gütern Make in India angesprochen werden. Identitätspolitisch geht die BJP einen klaren Weg: Indien soll Hindunation sein und sich als Vishwa Guru („Lehrer der Welt“) und Vishwa Mitra („Freund aller“) innen- und außenpolitisch auf die eigene „zivilisatorische Stärke rückbesinnen“ – frei nach S. Jaishankar, dem indischen Außenminister: eben mehr Bharat werden, die Sanskrit-Bezeichnung Indiens.
Modi in Umfragen klar vorne
Vor der Wahl scheint es unklar, ob die Oppositionskoalition Indian National Developmental Inclusive Alliance (I.N.D.I.A.) um den Indian National Congress (INC) in den Augen der Wähler*innen eine valide Alternative zur aktuellen Regierung darstellt. Umfragen bestätigen, dass die Oppositionskoalition zwölf Prozentpunkte hinter der Koalition um Narendra Modi liegt. Dies kommt nicht von ungefähr: Lange hatte die Oppositionskoalition Probleme damit, Inhalte im politischen Diskurs zu positionieren, die eine geeinte politische Agenda versprachen. Die Opposition versuchte in einer Koalition mehr als 20 Parteien zu vereinigen, konnte der Wählerschaft aber nicht immer genau erklären, wie ein künftiges Indien politisch geführt werden würde. Auch öffentlicher Streit, Probleme mit den Justizbehörden, ein sehr langwieriger Prozess um das sogenannte Seat-Sharing sowie immer wieder das Überlaufen bedeutender Oppositionspolitiker zur Regierungspartei setzen der Koalition stark zu.
Das Wahlprogramm des INC stieß in eine altbewährte Richtung: wirtschafts- und sozialpolitisch fokussiert auf marginalisierte Gruppen – die auch weiterhin durch (25 verschiedene) Garantien gewonnen werden sollen. Versprochen wurde: die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, ein Recht auf Ausbildung, ein Mindesteinkommen von 100 000 Rupien pro Jahr für jeden Haushalt (etwa 1 100 Euro) sowie eine 50-Prozent-Quote für Frauen in Regierungsjobs. Identitätspolitisch möchte der Congress für ein inklusives und diverses Indien stehen. Außenpolitisch – was nunmehr vor der Wahl auch eine zunehmende innenpolitische Relevanz hat – möchte sich der INC in Kontinuität mit der Freiheitsbewegung sehen, die „durch die Weisheit visionärer Führer wie Jawaharlal Nehru entwickelt wurde“, und Indiens internationales Image verbessern. Führende Oppositionspolitiker*innen haben eingeräumt, dass das Oppositionsbündnis einen schweren Kampf zu bestehen hat. Sie argumentieren aber, dass es immer noch eine Chance gebe, die BJP daran zu hindern, eine erneute Mehrheit im Parlament zu erlangen.
Umfangreiche Subventionen für Bedürftige
Ein signifikanter Teil der Unterstützung für den Premierminister und seine Partei lässt sich wirtschaftlich ableiten. Indien hat eines der größten kostenlosen Lebensmittelprogramme der Welt, in dem circa 800 Millionen Menschen Anspruch auf Lebensmittelunterstützung haben, und bietet umfangreiche Subventionen, die Bedürftigen zugutekommen sollen. Die Anzahl der Menschen, die zur Mittelklasse gehören, ist gestiegen und auch die Armutsbekämpfung konnte Erfolge verzeichnen. In den vergangenen 30 Jahren ist indische Wirtschaft doppelt so schnell gewachsen wie die Weltwirtschaft – 2023 waren es rund sieben Prozent. Der Dienstleistungssektor hat den größten Beitrag zum BIP-Wachstum, zum Beschäftigungswachstum und zur Armutsbekämpfung geleistet. Indiens Entwicklungsstrategie war dabei nicht statisch und hat sich auf nationaler und internationaler Ebene weiterentwickelt, sodass in einzelnen Bereichen der Wertschöpfung nun höherwertige Ebenen der globalen Lieferketten eingenommen werden und auch Produktionskapazitäten ausgebaut werden konnten. Auch ausländische Direktinvestitionen sind etwas angestiegen – große internationale Technologiekonzerne wie beispielsweise Apple produzieren in Indien. Andere wollen folgen.
Trotz dieser Erfolge sieht sich das Land großen Herausforderungen gegenüber: Indien ist in Teilen immer noch eine Agrarwirtschaft, leidet an regionalen Unterschieden. Diverse indische Firmen werden auf dem Weltmarkt nur langsam konkurrenzfähig und weite Teile der Arbeitnehmerschaft sind entweder schlecht ausgebildet und/oder Teil des sehr großen informellen Sektors. Dieser macht, folgt man den Zahlen des Internationalen Währungsfonds, immer noch 83 Prozent aus. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei acht Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt weniger als 2 500 US-Dollar. Auch die indische Infrastrukturentwicklung bleibt aufgrund der Größe des Landes eine Herausforderung.
Ergebnis am 4. Juni
Im öffentlichen Diskurs wird das wirtschaftliche Wachstum, das unter der durch den Congress angeführten Vorgängerregierung Fahrt aufnahm, der Modi-Regierung zugeschrieben. Herausforderungen werden häufig als Überbleibsel der kolonialen Vergangenheit betrachtet, als Ergebnisse der „verlorenen Jahrzehnte“ oder als bald überwundene Herausforderungen. So sagen beispielsweise 53 Prozent aller Inder*innen, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten bereits heute gut seien, und 66 Prozent glauben, dass diese in den kommenden 25 Jahren besser werden würden.
Hier werden die Ambivalenzen Indiens deutlich. Die politische Ökonomie erzeugt noch immer gesellschaftliche Bruchlinien entlang wirtschaftlicher Möglichkeiten, komplexer Identitäts- und Kastenlogiken sowie gesellschaftlicher Machthierarchien und einem Stadt-Land- bzw. Nord-Süd-Gefälle – Probleme, die in Anbetracht der Größe, Diversität und nicht zuletzt des indischen Föderalismus per se Mammutaufgaben sind. Allerdings existiert eine belastbare Plattform verschiedenster Menschen, die allesamt an den Aufstieg des eigenen Landes und somit in dieser Wahrnehmung an den aktuellen Kurs glauben.
Am 4. Juni wird feststehen, wie die politischen Verhältnisse in Indien für die kommenden fünf Jahre aussehen werden. Enorm relevant ist die indische Wahl nicht nur, weil die politische Agenda der nächsten Regierung direkte Auswirkungen auf die Lebensumstände eines Sechstels der Weltbevölkerung haben wird, sondern auch, weil Neu-Delhi eine herausragende Bedeutung bei der Bekämpfung globaler Herausforderungen und dem Erhalt einer regelbasierten Weltordnung zukommt. Bilateral, zwischen Deutschland und Indien, sprechen existierende und künftige Kooperationen in den Bereichen grüne Energieerzeugung, digitale öffentliche Infrastrukturen, widerstandsfähige Wertschöpfungsketten, Künstliche Intelligenz oder bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten eine eindrucksvolle Sprache. Wer die Geschicke des Landes lenken wird – ob weiterhin Narendra Modi oder ein Oppositionspolitiker –, ist damit vielleicht noch nicht Vishwa Guru, aber ganz sicher von großer Bedeutung – in Berlin, Europa und der Welt.
Zuerst erschienen im IPG-Journal.
leitet das Indien-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Delhi. Zuvor war er Regionaldirektor der FES in Kasachstan und Usbekistan. Er ist Mitherausgeber des Bandes „Flucht, Migration und die Linke in Europa“ (Dietz 2017).