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Was die Verurteilung von Ex-HDP-Chef Demirtas für die Türkei bedeutet

Führende prokurdische Politiker*innen wurden in der Türkei zu Rekordstrafen verurteilt – unter ihnen der ehemalige HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas. In den kurdischen Gebieten wächst die Sorge. Die Opposition um die CHP muss sich entscheiden, wie sie künftig mit Erdogan umgehen will.

von Kristina Karasu · 17. Mai 2024
Demonstration für den inhaftierten HDP-Politiker Selahattin Demirtas in Diyarbakir im Mai 2023: ein „juristisches Massaker“

Demonstration für den inhaftierten HDP-Politiker Selahattin Demirtas in Diyarbakir im Mai 2023: ein „juristisches Massaker“

Ein „juristisches Massaker“ – so bezeichnet die DEM-Co-Vorsitzende Tülay Hatimoğulları die Rekordstrafen, die 24 ihrer prokurdischen Parteikolleg*innen am Donnerstag in Istanbul erhielten. Andere türkische Oppositionelle bezeichneten die Strafen als Verschwörung, Rache oder Keule des Erdogan-Regimes. Tatsächlich fällt es schwer, das Urteil nicht als politisch motiviert zu betrachten.

Hintergrund sind die Kobane-Proteste von 2014

Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, einst einer der stärksten Gegner Erdogans, wurde zu zweiundvierzig einhalb Jahren Haft verurteilt, seine Kollegin Figen Yüksekdağ zu merh als 30 Jahren. Sie waren wegen ihrer Beteiligung an den Kobane-Protesten im Oktober 2014 angeklagt worden, man wirft ihnen die Verletzung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität sowie die Anstiftung zu einem Verbrechen vor. Damals riefen die prokurdische HDP und ihre Führer*innen zu Demonstrationen gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane durch den IS auf; daraufhin strömten in 32 türkischen Städten Menschen auf die Straßen.

Vielerorts endeten die Proteste in Gewalt, mindestens 37 Menschen starben, überwiegend Kurd*innen. Die meisten Todesfälle sind bisher kaum aufgeklärt, auch der Prozess hat dazu wenig ans Licht gebracht. Demirtas und seine Parteikolleg*innen bestreiten, damals zu Gewalt aufgerufen zu haben. Die Anklage stützt sich weitestgehend auf Social-Media-Posts und öffentliche Reden der Angeklagten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Verfahren in der Vergangenheit kritisiert und die Freilassung von Demirtas verlangt. Doch das wurde nie umgesetzt – Demirtas sitzt seit 2016 in Haft.

Weiterer Schlag gegen die prokurdische Politik

Das Urteil gegen Demirtas und die anderen HDP-Politiker*innen ist ein weiterer Schlag gegen die türkische Opposition, aber vor allem gegen die prokurdische Politik. Seit Erdogan den von ihm selbst initiierten Friedensprozess mit der verbotenen PKK 2015 abbrach und ein Bündnis mit der ultrarechten MHP einging, hat er die Kurdenpolitiker*innen zum Staatsfeind Nummer eins erklärt.

Seit Jahren sitzen zahlreiche prokurdische Politiker*innen in Haft, werden Journalist*innen und Wissenschaftler*innen in den Kurdengebieten eingeschüchtert und kurdische Meinungsführer*innen wie etwa der bekannte Menschenrechtsanwalt Taric Elci aus Diyabarkir unter mysteriösen Umständen ermordet. Ab 2019 wurden zahlreiche kurdische Bürgermeister*innen abgesetzt und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt. MHP-Chef Devlet Bahceli regte ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische HDP an; aus Vorsicht gründeten deren Mitglieder daraufhin im vergangenen Jahr die neue Partei DEM. 

Die Sorge unter den Kurd*innen ist groß

Bei den Kommunalwahlen am 31. März konnte die DEM erneut zahlreiche Rathäuser in den Kurdengebieten mit großer Mehrheit gewinnen. Doch die Urteile vom Donnerstag schüren die Angst, dass ihnen erneut Zwangsverwaltung droht. So ist unter den Verurteilten etwa der 81-jährige Bürgermeister von Mardin, Ahmet Türk, der über Parteigrenzen hinweg als moderater Politiker geschätzt wird und sich seit Jahrzehnten für Frieden einsetzt. Er wurde zu zehn Jahren Haft wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt.

Erdogan wirft der DEM/HDP vor, als politischer Arm der verbotenen Arbeiterpartei PKK zu fungieren, die auch in der EU als Terrororganisation gelistet wird. Tatsächlich teilen sie dieselben politischen Wurzeln, und gibt es in der Partei sowohl moderate als auch radikalere Mitglieder. Fakt ist aber auch, dass sich die HD/DEM seit Jahren für eine friedliche, politische Lösung des Kurdenkonfliktes einsetzt. So einer Lösung wurde mit den Urteilen eine herbe Absage erteilt.

Welchen Plan verfolgt Erdogan?

Dabei hatten viele Oppositionelle in der Türkei seit den Kommunalwahlen am 31. März auf einen politischen Wandel gehofft. Erdogan, dessen Partei das erste Mal seit 22 Jahren auf den zweiten Platz rutschte, hatte diese Hoffnung selbst genährt: Er versprach in den vergangenen Wochen einen neuen politischen Kurs der Versöhnung und „Normalisierung“. Er traf sich Anfang Mai mit Oppositionsführer Özgür Özel – das erste Mal seit acht Jahren, dass Erdogan einen CHP-Chef empfing.

Die öffentliche Meinung zu diesem Treffen war zweigeteilt. Viele sahen darin ein Signal der Stabilität an die angeschlagene Wirtschaft, aber auch als Chance für mehr Demokratie. Manche Analysten werteten das Treffen hingegen als Manöver Erdogans, um die Opposition in Schacht zu halten und seine eigene Macht zu legitimieren, statt wirklich einen demokratischen Kurswechsel zu wagen. Die Urteile des Istanbuler Gerichts scheint dem Recht zu geben.

Proteste von der CHP

Während die prokurdische DEM nun weiter um ihr politisches Überleben kämpft, ist die Reaktion der CHP auf das Urteil für den Fortbestand der türkischen Opposition entscheidend. Özgür Özel, der bereits beim Treffen mit Erdogan auf eine unabhängige Justiz und die Freilassung politischer Häftlinge drängte, schickte am Donnerstag eine elfköpfige Delegation zum Gerichtsprozess und kritisierte das Urteil prompt als politisch motiviert und die Strafen für Demirtas für Figen Yüksekdag als „absolut inakzeptabel“. 

Auch der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem Imamoglu kritisierte die Rekordstrafen: „Die Verurteilung dieser Menschen wird dem Land nichts bringen“, betonte er. Ein lauter, landesweiter Aufschrei hingegen ist ausgeblieben. In den Kurdengebieten wurde ein viertägiges Demonstrationsverbot verhängt, in den Metropolen haben die Bürger*innen anderen Sorgen. Bis zu wirklicher Demokratie und Meinungsfreiheit ist es in der Türkei noch ein weiter Weg.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Sa., 18.05.2024 - 07:07

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Bisher hat man aus SPD-Kreisen recht wenig zur Unterdrückung der Kurden und anderer Nationalitäten in der Türkei vernommen. Zu sehr ist man mit der CHP verbandelt, die sich von ihrer nationalistischen Politik immer noch nicht befreit hat. Aber das ist nicht nur ein Problem in der Türkei sondern auch hier in Deutschländerland funktionieren Sicherheitsorgane und Justizapparat sehr oft als Handlanger Erdoghans und anderer turko-nationalistischer Kreise in der Türkei.
Ich hoffe daß die Bundesregierung und besonders die SPD sich für die Freilassung die inhaftierten Kurden, aber auch anderer oppositioneller Politiker, einsetzt und die Vefolgung von Kurden auch hier ein Ende findet.