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Präsidentschaftskandidat İmamoğlu: Aus dem Gefängnis gegen Erdoğan?

Seit Sonntag ist Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu wegen des Verdachts auf Korruption in Untersuchungshaft. Gleichzeitig wurde er von Millionen Türk*innen zum Präsidentschaftskandidaten gewählt. Offen ist, ob und wann der Erdoğan herausfordern kann.

von Kristina Karasu · 24. März 2025
Klares Zeichen: Mehr als 15 Millionen Türk*innen wählten Ekrem İmamoğlu am Sonntag zum Präsidentschaftskandidaten der CHP.

Klares Zeichen: Mehr als 15 Millionen Türk*innen wählten Ekrem İmamoğlu am Sonntag zum Präsidentschaftskandidaten der CHP.

Die Schlangen vor den Wahllokalen wollen kein Ende nehmen: Stundenlang stehen am Sonntag Bürger*innen in Istanbul oder Gaziantep, Ankara oder Bursa an, um symbolisch ihre Stimme für Ekrem İmamoğlu abzugeben. Der war am Dienstag festgenommen, am Sonntagmorgen wegen Verdacht auf Korruption zu Untersuchungshaft verurteilt und als Istanbuler Bürgermeister abgesetzt worden.

„Ich bin gekommen, um gegen diese Ungerechtigkeit ein Zeichen zu setzen“, sagt die 23-jährige Buchhalterin Zeynep vor der Wahlurne im konservativen Istanbuler Viertel Piyalepasa. Sie selbst ist eine gläubige Muslima, ihre Familie stand lange Erdoğans AKP nah. Aber nun reicht es, findet sie „Es muss endlich jemand anderes an die Macht!“ betont Zeynep. Ihr Verlobter nickt.

İmamoğlus Verhaftung war nur der Auslöser

Bis zum Sonntagabend stimmten 15 Millionen Menschen im ganzen Land symbolisch für İmamoğlu. Zudem versammelten sich erneut hunderttausende Menschen vor dem Istanbuler Rathaus, um gegen İmamoğlus Verhaftung am Mittwoch zu protestieren. Die Stimmung war angespannt. „Rücktritt Erdogan!“ forderten die überwiegend jungen Demonstrierenden in Sprechchören. Sie ließen ihrer jahrelang angestauten Wut auf das immer autoritärere Ein-Mann-Regime Erdoğans nun freien Lauf. İmamoğlus Verhaftung war nur der Auslöser. Denn sie zeigt, zu welchen Maßnahmen das Regime bereit ist, um ihre mächtigsten Gegner auszuschalten. 

In den späten Abendstunden beschossen Hundertschaften der Polizei die Demonstrierenden mit Wasserwerfern und Tränengas. Im Morgengrauen wurden allein in Istanbul mehr als 70 Menschen festgenommen, darunter sechs Journalisten, die über die Proteste berichtet hatten. Erdoğan bezeichnete die Demonstrationen derweil als „Straßenterror“.

Die Vorwürfe gegen İmamoğlu stützen sich auf Gerüchte

Die meisten Menschen im Land glauben, dass Erdoğan oder ihm nahestehende Kreise hinter der Verhaftung İmamoğlus stecken. Denn die Beweislage ist dünn, die Vorwürfe wegen Ausschreibungsmanipulation, Erfassung persönlicher Daten, Bestechung und Bandenbildung gegen İmamoğlu stützen sich vorwiegend auf Aussagen anonymer Zeugen, oftmals auf Gerüchte.

Viele Menschen im Land empfinden es als ungerecht, dass İmamoğlu inhaftiert wurde, bevor man seine Schuld oder Unschuld bewiesen hat, dass seit Tagen Demonstrationen verboten, das Internet gedrosselt und Straßen weiträumig abgesperrt sind. Sie erinnern daran, dass die Justiz die immensen Korruptionsvorwürfe, die schon vor Jahren gegen die AKP und auch den Staatspräsidenten erhoben wurden, nie weiterverfolgte.

Nachfolger*in soll am Mittwoch gewählt werden

Zusammen mit İmamoğlu ließ man am Sonntag über weitere 50 Menschen aus seinem engen Umfeld verhaftet, darunter Politiker, Bürokraten, Geschäftsleute und zwei Istanbuler Bezirksbürgermeister der CHP. Einer von ihnen ließ man am Montag bereits durch einen Erdoğan-nahen Zwangsverwalter ersetzen.

Viele Istanbuler*innen fürchteten, dass İmamoğlu dasselbe droht. Doch am Sonntag erklärte das Innenminsterium, dass am Mittwoch das Istanbuler Stadtparlament eine oder einen Nachfolger*in für İmamoğlu bestimmen darf. Da die CHP dort die Mehrheit besitzt, wird es jemand aus ihren Reihen sein.

Neuwahlen könnten Erdoğan in die Karten spielen

Die Partei muss sich nun neu sortieren. Die CHP hat am Sonntagabend İmamoğlu offiziell zu ihrem Präsidentschaftskandidaten erklärt. Zugleich hat sie für den 6. April zu einem außerordentlichen Parteikongress einberufen. Sie fordert Neuwahlen, andere Oppositionsparteien stehen hinter ihnen. Sollte İmamoğlu nicht antreten können, ist der ebenfalls sehr beliebte Oberbürgermeister von Ankara Masun Yavas im Gespräch. 

Zwar stehen reguläre Wahlen erst 2028 an. Neuwahlen wären aber auch für Erdoğan nützlich, denn laut Verfassung dürfte er bei einer regulären Wahl nicht mehr antreten.

Erdoğan spielt auf Zeit

Entscheidend sind nun die kommenden Tage. Viele Demonstrant*innen wünschen sich, dass die CHP sie stärker gegen die Polizeigewalt verteidigt, ihnen eine Stimme gibt und entschlossener die Proteste anführt. Klar ist, dass Erdoğan keinen Schritt zurückweichen, sondern weiter mit großer Härte gegen die Opposition, aber auch gegen Protestierende vorgehen wird – koste was es wolle.

In der jetzigen Lage hätte er kaum eine Chance, eine Wahl zu gewinnen. Aber er spielt offensichtlich auf Zeit – im Glaube, dass die Proteste im Sand verlaufen und die Opposition sich zerstreiten wird. Die kommenden Wochen dürften zeigen, ob Erdoğan oder die Opposition gestärkt aus diesem Krise hervorgehen.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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