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Neue Corbyn-Partei: „Sie zielt vor allem auf enttäuschte Labour-Wähler“

Der frühere Labour-Chef Jeremy Corbyn hat angekündigt, eine neue Partei gründen zu wollen. James Hoctor von der Friedrich-Ebert-Stiftung in London erklärt, wie das die Parteienlandschaft in Großbritannien verändern und ob die Partei Premierminister Keir Starmer gefährlich werden kann.

von Jonas Jordan · 31. Juli 2025
Jeremy Corbyn bei einer pro-palästinensischen Kundgebung in London

Jeremy Corbyn bei einer pro-palästinensischen Kundgebung in London

Jeremy Corbyn hat angekündigt, eine neue Partei gründen zu wollen. Kommt dieser Schritt überraschend?

Auf der einen Seite ist diese Entwicklung auf die Zersplitterung der Parteienlandschaft in Großbritannien zurückzuführen. Der Duopol aus Tories und Labour bröckelt seit dem Brexit. Die Tories teilen sich das bürgerlich-konservative Lager nun mit der rechtspopulistischen Reformpartei von Nigel Farage. Labour hat zwar seit Juli 2024 eine riesige Mehrheit im Unterhaus. Trotzdem geht die Unterstützung für die Partei in Großstädten oder in den ehemaligen Industriehochburgen zurück. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr ist es erstmals unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten gelungen, gegen Labour zu gewinnen. Die alte Parteienlandschaft bricht zusammen. Viele sowohl auf der Linken als auch auf der rechten Seite sehen das als Chance, sich gegen die etablierten Parteien durchzusetzen. 

Auf der anderen Seite kann man die neue Partei von Corbyn als ein Produkt der Marginalisierung des linken Lagers in der Labour-Partei verstehen, nachdem sich Keir Starmer 2020 als Parteivorsitzender durchgesetzt hat. Viele Mitglieder sind aus der Partei ausgetreten. Ein Teil von ihnen hat sich seitdem vor allem in sozialen Bewegungen, in Gewerkschaften, in der weiteren Zivilgesellschaft und bei den Grünen engagiert. Es galt seit mehreren Jahren als offenes Geheimnis, dass es einen Arbeitskreis rund um Jeremy Corbyn zur Gründung einer neuen Partei gab. Der Austritt von Zarah Sultana beschleunigte diesen Prozess.

Was ist inhaltlich von der neuen Corbyn-Partei zu erwarten?

In der Wirtschaftspolitik wird eine Vermögenssteuer auf jeden Fall oben auf der Agenda stehen. Die Partei wird bestimmt auch klar Stellung beziehen gegen die Kürzungen der Sozialleistungen, die die Labour-Regierung eingeführt hat. Man kann auch davon ausgehen, dass sich die Partei für die Entprivatisierung der Bahn, von Energiekonzernen, der Post und von Schlüsselindustrien einsetzen wird. Gaza wird das allerwichtigste außenpolitische Thema der neuen Partei werden. Großbritannien verfügt über eine große, sehr gut organisierte Solidaritätsbewegung mit Palästina. Dagegen könnte die Haltung zur NATO ein großes Streitthema werden.

Jeremy Corbyn hat als Spitzenkandidat 2019 das historisch schlechteste Wahlergebnis für Labour eingefahren. Warum ist er trotzdem noch so populär?

Das liegt auch am Mehrheitswahlsystem in Großbritannien. 2017 hat Jeremy Corbyn 40 Prozent der Stimmen gewonnen. Beim Wahlsieg im vergangenen Jahr hatte Labour nur 34 Prozent. Als Jeremy Corbyn Labour geführt hat, war er umstritten. Teile der Partei fühlten sich nicht vertreten. Trotzdem hat ein Teil der Bevölkerung noch immer ein positives Bild von ihm. Teilweise schneidet er in Umfragen sogar besser als Premierminister Keir Starmer ab. Spannend wird, ob er in der neuen Partei überhaupt Vorsitzender wird. Erst mal soll er ihr die notwendige Legitimität verschaffen, um alle politischen Kräfte links von Labour zu vereinen. Denn bei allem Streit können sie sich in jedem Fall auf Corbyn als Führungsfigur einigen.

Als Corbyn Labour-Vorsitzender wurde, galt er als Kandidat der Basis gegen das Partei-Establishment. Gilt das immer noch?

Das könnte man sagen. Das gehört zu seinem politischen Instinkt. Er befürwortet demokratische Prozesse innerhalb der Partei. Es haben sich mittlerweile schon 500.000 Menschen angemeldet für dieses Projekt. Der Name der Partei, die Struktur und die Gliederung soll nun unter diesen Menschen demokratisch ausgehandelt werden. Das wird kein Stammtisch, sondern ein landesweites Projekt und auch ein großer Aufwand.

Inwieweit würden Sie die Parallele zu Jean-Luc Mélenchon in Frankreich und Bernie Sanders in den USA ziehen? In allen drei Fällen sind es ältere Männer über 70, denen das Vertrauen entgegengebracht wird, die zentrale linke Führungsfigur zu sein.

Ja, das ist schon bemerkenswert. Das ist auch eine Frage der Legitimität, auf wen sich alle verständigen können. Allerdings ist noch unklar, ob Corbyn oder Zarah Sultana die zentrale Führungsfigur der neuen Partei sein wird. Sie ist eine sehr laute, starke Stimme für Palästina und auch auf Tiktok sehr populär. Damit erreicht sie noch einmal eine andere Wählerschaft als Corbyn und folgt dem Vorbild der Linkspartei in Deutschland mit Heidi Reichinnek als Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl.

James
Hoctor

Die neue Partei zielt vor allem auf enttäuschte Labour-Wähler.

Laut einer Umfrage könnte die neue Partei 15 Prozent der Stimmen erzielen und damit gleichauf mit Labour liegen. Halten Sie das für realistisch?

Ja, ich könnte mir das vorstellen. Wie viele Sitze die Partei gewinnen würde, hängt vom Mehrheitswahlrecht ab. Die neue Partei zielt vor allem auf enttäuschte Labour-Wähler. James Schneider, ein ehemaliger Labour-Mitarbeiter, hat das in einem Interview erklärt. Sie will sich auf Arbeitende ohne Vermögen, Menschen mit Uni- oder Ausbildungsabschlüssen, die einen sozialen Abstieg erleben, und marginalisierte Minderheitsgruppen, vor allem mit Migrationshintergrund, konzentrieren. Ich kann mir vorstellen, dass sie bei diesen Gruppen Anklang findet.

Wenn es ihnen gelingt, sich als neue linke Kraft zu etablieren, wie würde das die politische Landschaft in Großbritannien verändern?

Wir befinden uns in einem Moment, in dem es aufgrund der Zersplitterung der Parteienlandschaft so viele Variablen gibt, dass die Folgen noch nicht wirklich absehbar sind. Es sind noch drei bis vier Jahre Zeit bis zur nächsten Parlamentswahl. Es gibt teilweise Projektionen, nach denen die rechtspopulistische Reformpartei auf mehr als 400 Sitze käme, wenn man die aktuellen Umfragewerte auf die einzelnen Wahlkreise umlegt. Das wird aber definitiv nicht passieren. Gleichzeitig gibt es mit den Grünen, den Liberalen, wahrscheinlich auch der neuen Linkspartei immer mehr Parteien, die sich für eine Wahlrechtsreform aussprechen. Auch in der Gesamtwählerschaft fände das vermutlich Anklang. Ob es dazu kommen wird, ist jedoch fraglich.

James
Hoctor

Der Vorteil von Labour ist, dass sie noch Zeit haben, um sich die richtige Strategie zu überlegen.

Wie kann es Labour gelingen, bis zur nächsten Parlamentswahl das Ruder herumzureißen und auf die neue Partei zu reagieren?

Der Vorteil von Labour ist, dass sie noch Zeit haben, um sich die richtige Strategie zu überlegen. Wobei bereits am 7. Mai 2026 wichtige Regional-, Kommunal- und Bürgermeisterwahlen anstehen. Das wird ein großer Test, nicht nur für Labour, sondern auch für die neue Partei und auch für Reform. Labour hat bisher auf diese neue Entwicklung gar nicht reagiert. 

Es gibt zwei Optionen für die Partei: Die eine Option wäre, an diesem konservativeren Kurs festzuhalten, in der Hoffnung, dass sich die Wähler*innen doch noch für die alte bekannte Marke entscheiden. Das wäre eine riskante Strategie für die Partei. Die andere Option wäre, der neuen Partei den Wind aus den Segeln zu nehmen mit einem Angebot an die frustrierten Bürgerinnen und Bürger, die sich von der neuen Partei oder von Reform angesprochen fühlen. 

Wie hat es Labour eigentlich geschafft, nach so einem deutlichen Sieg bei der vergangenen Wahl so schnell so viele Menschen zu enttäuschen?

Sie haben eine sehr schwierige Lage geerbt aus den vorherigen 15 Jahren, in denen die Konservativen regiert haben, aber es fehlte der Partei auch eine Strategie für das Regieren. Labour hat im Juli 2024 von der Unzufriedenheit mit den Tories profitiert. Sie wurden nach einer Vielzahl an Skandalen von der Bevölkerung als einzige Alternative wahrgenommen. Jetzt haben sie einen Kurs eingeschlagen, der fiskalpolitisch konservativ und außenpolitisch relativ zurückhaltend ist, vor allem was Gaza angeht. Labour will die nächste Parlamentswahl zu einer Richtungsentscheidung machen zwischen Keir Starmer – kompetent, zuverlässig, erfahren – und Nigel Farage – radikal, elitär, umstritten. Diese Strategie ist ein großes Risiko. Denn Labour hat sich nicht entschieden, wofür und für wen die Partei steht.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Fr., 01.08.2025 - 06:56

Permalink

Der Sieg von Labour unter Keir Starmer brachte mit lediglich 34% der Wählerstimmen eine mehr als absolute Mehrheit im Parlament. Mit Corbyn als Vorsitzendemerreichte Labour zwar mehr als 40% der Wählerstimmen, aber es reichte nicht für eine parlamentarische Mehrheit. Dies ist den britischen Wahlsystem geschuldet und von Starmer fortlaufend als Wahlsieger zu schreiben verstellet den Blick auf die Realität.
Ich für meine Person wünsche Corbyn und Genossen viel Erfokg - wir brauchen endlich wieder SOZIALDEMOKRATIE - aber auch in unserem Lande !

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Fr., 01.08.2025 - 09:11

Permalink

So wie in Deutschland immer wieder von der SPD enttäuschte Mitglieder neue Parteien (z.B. USPD, SAP, WASG) gegründet haben, so setzt sich dies in Großbritannien fort.

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