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Nach historischer Labour-Pleite: „Es war nie das Projekt Corbyn“

Michelle Rauschkolb ist Vizepräsidentin der Young European Socialists (YES). Im Wahlkampf hat sie Labour unterstützt. Jetzt bereitet ihr die Zerrissenheit der Partei Sorge. Gleichzeitig hofft sie, dass sich das Corbyn-Lager durchsetzt.
von Jonas Jordan · 13. Dezember 2019
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Ein Erdrutschsieg für Boris Johnson, während Labour gleichzeitig auf den schlechtesten Wert seit 1935 kommt. Wie beurteilen Sie das Wahlergebnis in Großbritannien?

Es ist ein Schock, gerade weil ich selbst vor Ort war. Ich habe die Stimmung anders erlebt. Was mir Sorge bereitet, ist das, was jetzt innerhalb der Labour-Partei passiert. Ein starkes Labour-Ergebnis hätte auch innerhalb der europäischen Sozialdemokratie eine Welle auslösen können. Das Programm von Labour war wirklich sehr gut, aber es kam leider nicht zum Tragen, weil die Brexit-Frage alles überlagert und die Partei innerlich zerrissen hat.

Sie waren vier Tage zur Wahlkampfunterstützung in Großbritannien. Was haben Sie dort gemacht?

Wir waren mit 40 Genossinnen aus Österreich, der Schweiz und Frankreich in Wahlkreisen unterwegs, in denen es eng war, und haben das mit Genossinnen aus der Labour-Partei koordiniert. Ich habe Haustürwahlkampf gemacht, mich aber auch mit Jon Lansman von Corbyns Unterstützerorganisation Momentum getroffen und mit ihm über die aktuelle Situation der SPD gesprochen. Denn Momentum kann trotz des Wahlausgangs für uns immer noch ein Vorbild sein, was Campaigning angeht.

Wie haben Sie die Stimmung vor Ort wahrgenommen?

Ich war im Londoner Stadtteil Kensington unterwegs und habe eine sehr positive Stimmung gegenüber Corbyn erlebt. Viele junge Frauen haben uns zugerufen: „Ihr seid von Labour? Super! Wir wählen auf jeden Fall Corbyn.“ Das hat aber auch damit zu tun, dass Labour in den urbanen Zentren gewonnen hat. Im Norden des Landes in den Gebieten, die besonders mit der Deindustrialisierung zu kämpfen haben, und in den Midlands sah das definitiv anders aus, weil dort die Verbindung zur Labour-Partei verloren gegangen ist.

67 Prozent der 18- 24-Jährigen haben Labour gewählt. Kann die SPD etwas davon lernen?

Auf jeden Fall. Im Head Office von Momentun sitzen 50 Leute in einem sehr einfachen Gebäude und arbeiten total effektiv. Alle sind unter 40. Viele kommen aus sozialen Bewegungen. Auch beim Haustürwahlkampf waren viele Nicht-Mitglieder mit dabei. Das habe ich so in Deutschland noch nicht erlebt.

Jeremy Corbyn hat ein historisches schlechtes Ergebnis eingefahren. Gleichzeitig hat er die Mitgliederzahl von Labour in den vergangenen Jahren vervielfacht. Vor der Wahl gab es Fangesänge in Stadien für ihn. Wie nehmen Sie die Stimmung ihm gegenüber wahr?

Die britische Medienlandschaft spielt eine große Rolle. 85 Prozent der Medien werden von fünf Männern dominiert. Da ist wenig Raum für linke Medien und linke Positionen. Gleichzeitig hat es Corbyn geschadet, dass er sich nie wirklich deutlich zum Brexit geäußert hat. Er wurde immer als der Politiker verkauft, der seit Jahrzehnten für die Belange gesellschaftlich abgehängter Gruppen einsteht. Dass er dann zu so einem wichtigen Thema nichts sagt, funktioniert einfach nicht. Viele sagen jetzt, dass das Projekt Corbyn tot sei, aber es war nie das Projekt Corbyn, sondern immer das Projekt Sozialismus. Das ist immer noch da, weil diese Bewegung immer noch da ist, die es ohne ihn gar nicht geben würde.

Kann es die Bewegung künftig ohne Corbyn geben?

Ich glaube schon, wenn man es jetzt schafft, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu finden, die das weiterträgt. Vor allem müssen die Aktivisten von Momentum jetzt auch stärker im Norden Englands und in den Midlands aktiv werden.

Sehen Sie eine Führungsperson innerhalb der Labour-Partei, die Corbyn jetzt nachfolgen könnte?

Kevin Kühnert und ich waren auch beim Labour-Parteitag. Dort ist oft der Name Rebecca Long-Bailey gefallen, die zuletzt Schattenministerin für Wirtschaft, Energie und Industrielle Strategien war. Laura Pidcock ist ebenfalls eine vielversprechende junge Abgeordnete, hat allerdings gestern mit etwas mehr als 1.000 Stimmen ihr Mandat verloren. Ich hoffe auf jeden Fall, dass es eher jemand aus dem Corbyn-Lager wird.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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