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Manipulationsvorwürfe in Georgien: „Die Wahlen waren nicht fair“

Der Georgische Traum hat die Wahl gewonnen, die Opposition wittert Betrug.  Marcel Röthig, Leiter des Südkaukasus-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung, spricht über die Proteste im Land und die Reaktion der EU.

von Olga Vasyltsova · 29. Oktober 2024
Protestant*innen werfen der Regierung Wahlmanipulation vor.

Protestant*innen werfen der Regierung Wahlmanipulation vor. 

Trotz historischer Wahlbeteiligung blieb der Machtwechsel aus: Die Regierungspartei Georgischer Traum hat die Wahlen gewonnen. Ist dies nur durch Wahlbetrug zu erklären?

Die Wahlen waren nicht fair. Die internationalen Wahlbeobachtungsmissionen können jedoch nicht bewerten, ob die gemeldeten Verstöße ausreichen, um das Ergebnis anzufechten. Erstmals wurde per Wahlcomputer abgestimmt. Die rechtlich bindende händische Nachzählung ergab keinen nennenswerten Unterschied zum automatisierten elektronischen Ergebnis. Die abgegebenen Stimmen dürften also weitgehend korrekt erfasst worden sein.

Allerdings wurden zahlreiche Fälle von Wahlbeeinflussung dokumentiert, besonders in Gebieten mit ethnischen Minderheiten und in ländlichen Regionen, wo die Regierungspartei teils über 90 Prozent der Stimmen erhielt. Hier kam es zu Stimmenkauf, Mehrfachabstimmungen, versuchter Einflussnahme in der Wahlkabine und Druck auf Staatsbedienstete sowie sozial benachteiligte Wählergruppen. Bereits im Vorfeld gab es Berichte, dass von einigen Wähler*innen des Georgischen Traums sowie von Staatsbediensteten die ID-Karten einbehalten worden seien. Die Opposition und lokale Wahlbeobachter-NGOs erheben den Vorwurf, dass mit der so möglichen mehrfachen Eintragung in die Wahllisten unterschiedlicher Bezirke Stimmen mehrfach abgegeben worden seien. Prüfen kann man dies nur, indem nun nachträglich Zugang zu den Listen gewährt würde. Zudem wurde dokumentiert, dass oftmals keine Tinte oder nur Wasser für die obligatorischen Fingerabdrücke vorhanden waren, die Mehrfachabstimmungen verhindern sollten. Es kam zudem in Einzelfällen zu Gewalt und Einschränkungen gegen unabhängige oder oppositionsnahe Wahlbeobachter*innen.

Aber: Selbst die von oppositionsnahen Beobachter*innen durchgeführten Nachwahlbefragungen sahen den Georgischen Traum bei knapp über 40 Prozent. Ob die dokumentierten Unregelmäßigkeiten tatsächlich den entscheidenden Unterschied im Endergebnis ausmachen, ist nicht eindeutig festzustellen. Aufgrund dieser Unklarheit haben die internationalen Wahlbeobachter*innen sich zwar sehr kritisch geäußert, jedoch keine klare Empfehlung gegen die Anerkennung der Wahlen ausgesprochen.

Wie schafft es der Georgische Traum, trotz unpopulärer Maßnahmen wie dem sogenannten „Agentengesetz“ seit zwölf Jahren an der Macht zu bleiben?

Die hohe Zustimmung für den „Traum“ ist auch durch die wirtschafts- und sozialpolitische Bilanz seit 2012 zu erklären. Anhaltendes zweistelliges Wachstum, steigende Löhne und eine auffällig hohe Zahl an kurz vor den Wahlen eingeweihten Infrastrukturprojekten haben für eine stabile Kernwählerschaft gesorgt. Bereits vor den Wahlen war zu erwarten, dass die Partei stärkste Kraft wird. Zudem schürte die Partei mitunter europafeindliche Ressentiments oder agitiert gegen Zivilgesellschaft und die LGBTI-Community. Sie konnte dabei auf einen breiten Medienapparat zurückgreifen – und trifft auf eine mehrheitlich ohnehin eher zu konservativen Vorstellungen neigende Bevölkerung.

Die mittelfristigen Aussichten für die Wirtschaft sind jedoch weniger rosig: In den Tagen vor der Wahl musste die Nationalbank bereits mehrfach durch Dollar-Verkäufe die Landeswährung stabilisieren. Auch dürfte Georgien für westliche Investitionen in einem zunehmend autoritären Umfeld weniger attraktiv werden. Es stellt sich also auch die Frage, wie lange das noch gutgehen kann.

Marcel 
Röthig

Angesichts der unklaren Lage droht der Protest entweder zu verebben oder in eine Radikalisierung zu kippen.

Wie sind die Kräfteverhältnisse im Parlament und welche anderen Parteien spielen eine Rolle?

Der Georgische Traum hat das erklärte Wahlziel, eine verfassungsändernde Mehrheit, verfehlt. Damit kann er seine kontroversesten Ankündigungen, etwa das Verbot der Oppositionsparteien, nicht durchsetzen, sofern nicht einzelne Abgeordnete der Opposition mitstimmen oder überlaufen.

Die Opposition ist vierfach vertreten: Das Bündnis des inhaftierten Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili „Unity – National Movement" ist knapp hinter der neuen „Coalition for Change" gelandet, die maßgeblich von ehemaligen Unterstützern Saakaschwilis gegründet wurde. Daneben gibt es „Strong Georgia", die einen Zusammenschluss der liberalen Partei „Lelo" mit linken Parteien und Aktivist*innen der Proteste gegen das Agentengesetz darstellt, und die neu gegründete Partei „For Georgia" des früheren Premierministers Giorgi Gakharia, eine erklärtermaßen sozialdemokratische Partei. Besonders den letzteren beiden gelingt es, als dritte Kraft jenseits der umstrittenen Figur Saakaschwili aufzutreten und enttäuschten Wähler*innen des Georgischen Traums eine Alternative anzubieten.

Alle Oppositionsparteien werden aber ihre Mandate voraussichtlich nicht antreten und unterstützen stattdessen die Proteste, zu denen Präsidentin Salome Surabischwili aufgerufen hat. Sie fordern Neuwahlen. Eine inhaltliche Parlamentsarbeit ist damit nicht möglich und die Regierungspartei kann ihre Gesetzesvorhaben, bei denen die einfache Mehrheit reicht, ohne Debatten durchdrücken.

Die Opposition und die Präsidentin sprechen von einem „verfassungsrechtlichen Umsturz“ durch den Georgischen Traum und haben Proteste angekündigt. Ist ein revolutionäres Szenario in Georgien denkbar?

Die Aussage der Wahlbeobachter*innen, dass es zwar deutliche Beeinflussungen und Stimmenkauf gab, jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob dies das Wahlergebnis verändert hat, erweist sich als schwere Bürde für den Protest. Dass die Proteste zudem erst zwei Tage nach Schließung der Wahllokale losgehen, wirkt durchaus planlos. Es besteht die Gefahr, dass die Opposition das Momentum für eine klare Mobilisierung verpasst und Enttäuschung sich ausbreitet. Angesichts der unklaren Lage droht der Protest entweder zu verebben oder in eine Radikalisierung zu kippen. Die Erfahrung der wochenlangen Massenproteste gegen das „Agentengesetz“ zeigt, dass sich auch große Proteste im Laufe der Zeit verlaufen können. Hierauf scheint die Regierungspartei zu spekulieren.

Sollten die Proteste jedoch massiv an Fahrt aufnehmen, drohen Gewalt und eine Unkontrollierbarkeit der Entwicklung wie in der Ukraine 2014. Deutschland und der EU ist zu empfehlen, für eine frühzeitige Vermittlung eines Runden Tisches einzutreten. Ein Vorbild könnte der Runde Tisch während der Orangenen Revolution der Ukraine 2004 sein, der damals maßgeblich eine friedliche Lösung ermöglichte. Ein solcher könnte durch Deutschland, Frankreich und mittelosteuropäische Staaten moderiert werden, etwa der Slowakei. Auch wäre denkbar, eine anerkannte politische Persönlichkeit ohne momentanes Amt als Vermittlung zu entsenden, die von beiden Seiten anerkannt wird, allen voran von Bidsina Iwanischwili, dem Milliardär hinter dem Georgischen Traum. 

Wie reagiert der Westen? Gibt es noch Hoffnung auf eine europäische Zukunft für Georgien?

Im Moment scheint es so, als würde die EU mit angezogener Handbremse reagieren. Allerdings wirkt sie einmal mehr gespalten, da Viktor Orbán bereits vor Schließung der Wahllokale zu den ersten Gratulanten gehörte und noch dazu Montag und Dienstag nach Georgien reist, um der Regierungspartei seinen Segen zu geben. Zu groß sind in Brüssel offenbar die Befürchtungen, dass man Georgien verlieren könnte – was sich auf den gesamten Südkaukasus, allen voran den zaghaften europäischen Kurs Armeniens, auswirken könnte. Offenbar sind bei einigen die Bedenken zu groß, dass die Grundlage für ein Infragestellen des Wahlergebnisses zu wackelig ist. Dabei ist die Opposition auf internationale Unterstützung angewiesen. Die EU sollte von der georgischen Regierung Klarheit und Transparenz über die Vorwürfe der Mehrfachabstimmungen einfordern – etwa durch Einsicht in die Wählerverzeichnisse durch neutrale Beobachter*innen. Obwohl die EU auf offensichtlichen Wahlbetrug reagieren will, sind Sanktionen angesichts Ungarns Haltung unwahrscheinlich. Denkbar wäre jedoch die Aufhebung der Visumfreiheit – eine Maßnahme, die jedoch eher die Bevölkerung treffen würde. Ein Weitergehen des EU-Integrationsprozesses ist daher vorerst kaum realistisch.

Spannender könnte die Reaktion der USA ausfallen: Hier ist mit harten Finanz- und Personensanktionen zu rechnen. Tbilisi hingegen setzt offenbar auf einen Wahlsieg von Donald Trump, in der Hoffnung, dass das Interesse Washingtons am Südkaukasus abnehmen könnte.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Olga Vasyltsova

ist Redakteurin der russischsprachigen Ausgabe der IPG. Zuvor hat sie bei der Zeitung Kommersant-Ukraine gearbeitet.

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