Filmtipp: Georgien als Kulisse für Alltag, Liebe und Fußball
Grandfilm
„Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?": Schräger Liebesfilm aus Georgien über die Rätsel des Lebens
Ein junger Mann und eine junge Frau lernen sich zufällig auf der Straße kennen. In der Eile vergessen sie, einander den Vornamen zu verraten. Ein seltsamer Fluch verhindert, dass sich Lisa und Giorgi beim ersten Date wiedererkennen. Ist ihre Liebe noch zu retten?
Zunächst muss sich das Publikum durch ein unübersichtliches urbanes Gewusel in Georgien kämpfen. Dort herrscht ein unvermitteltes Kommen und Gehen. Mit ihrem Team streift eine Regisseurin durch die Stadt, um einen vor langer Zeit begonnenen Film endlich abzuschließen. Doch die letzte Szene ist schwieriger als gedacht. Was vor allem für die Suche nach Paaren gilt, die vor der Kamera die perfekte Liebe zu symbolisieren bereit sind.
Und da wäre noch die Fußball-Weltmeisterschaft, die die Stadt in einem rauschhaften Wahn treibt. Davon möchte der Besitzer eines improvisierten Straßencafés profitieren. Bislang hatte er damit wenig Erfolg. Doch von einem Moment auf den anderen wird alles anders. Wie durch ein Wunder laufen alle Fäden dieses bisweilen märchenhaften Films zwischen einem Thekenwagen und ein paar Plastikstühlen zusammen.
Mehrere Handlungsstränge gleichzeitig
Bis sich alles fügt, ist es ein weiter Weg, auch zeitlich betrachtet. Zweieinhalb Stunden nimmt sich der georgische Filmemacher Alexandre Koberidze („Lass den Sommer nie wieder kommen“) Zeit, um anhand der genannten Handlungsstränge zu zeigen, wie unerklärlich der Alltag sein kann. Soll heißen: Man muss eben nur genug hinschauen, um zu erkennen, dass unsere Welt nicht (allein) auf Vernunft gebaut oder ausschließlich dadurch zu verstehen ist.
Um das klarzumachen, wählt er zwei Lebensbereiche, die auf ihre Weise für Ausbrüche großer Leidenschaft, aber auch für unvorhersehbare bis rätselhafte Erfahrungen stehen: die Liebe und den Fußball. Die Geschichte um Lisa und Giorgis unglücklich gestartete Beziehung und wie die beiden ungewollt einsam den Alltag erleben bestimmt den großen Rahmen, doch der Film begibt sich immer wieder auf andere Pfade, deren Verbindung mit dem Rest lange unklar bleibt.
So entsteht aus völlig verschiedenen Blickwinkeln das Bild einer sommerlichen Stadt in Georgien, die vor allem dank des Mega-Fußballfestes dieses Sommers von einer übernatürlichen Aura ist. Was auch bedeutet, dass weniger die Akteur*innen selbst das Geschehen bestimmen. Eher kommt das Gefühl auf, das unsichtbare und schicksalhafte Mächte die Fäden ziehen.
Langer Film mit viel Zeit für Extreme
Dank der üppigen Spielzeit kann Koberidze die verschiedenen Tonalitäten seines in zwei Hälften geteilten Films, der 2021 bei der Berlinale gezeigt wurde, voll auskosten und ins Extreme treiben. Gerade die an klassische Stummfilmzeiten erinnernde Sequenzen, in denen allein wuchtige Keyboardsounds oder auch verspielte Klavierstücke zu hören sind, unterstreichen den mysteriösen Charakter des Ganzen.
Diese Momente eines magischen Realismus, der das Übernatürliche im Alltäglichen entdeckt, werden kontrastiert durch Szenen des Großstadtlebens, die ganz und gar nicht übernatürlich sind, wohl aber von einem lakonischen Humor leben.
Kutaissi in Georgien als Bühne
Schauplatz des Ganzen ist Kutaissi. Die zwischen Hügeln und an einem reißenden Fluss gelegene drittgrößte Stadt Georgiens bietet mit ihrer prachtvollen, aber vielerorts baufälligen Architektur einen stimmigen atmosphärischen Rahmen. Wir erleben, wie lebendig dort so manche übersinnliche Überlieferung ist. Die Metropole in West-Georgiens ist für Mythen, Legenden und allerlei Seltsames auch im kulturhistorischen Sinne ein dankbarer Ort. Antike Poeten vermuteten in dieser Region das sagenumwobene Goldene Vlies.
Es ist nicht nur die Erdung im Realismus, die den Film vor dem Vorwurf des Eskapismus bewahrt, wenngleich der erzählende Off-Kommentar eben damit kokettiert, in diesen schwierigen Zeiten „nichts zu sagen zu haben“. Koberidze glaubt daran, dass das Kino es uns möglich macht, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.
Es braucht Ausdauer, um in „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen“ zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Doch es lohnt sich, diesen langen Weg zu gehen. Und sei es nur, um sich dem Fluss der sorgfältig komponierten, mitunter an Stillleben angelehnte Szenenbilder und dem Wechselspiel der Tonalitäten hinzugeben.
„Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ (Deutschland/Georgien 2021), ein Film von Alexandre Koberidze, Kamera: Faraz Fesharaki, Giorgi Bochorishvili, Vakhtang Panchulidze, Ani Karseladze, Giorgi Ambroladze u.a., 150 Minuten, Original mit Untertitel. Jetzt im Kino