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Georgien: Warum das „Agentengesetz“ nur die Spitze des Eisbergs ist

Mit dem „Agentengesetz“ verlässt Georgien den Weg in die Europäische Union, sagt Michael Roth nach seiner Rückkehr aus Tiflis. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags ruft deshalb zur Unterstützung der Proteste auf und warnt die EU vor einem Fehler.

von Kai Doering · 17. Mai 2024
SPD-Parlamentarier Michael Roth: „In Georgien erleben wir gerade eine progressive Freiheitsbewegung.“

SPD-Parlamentarier Michael Roth: „In Georgien erleben wir gerade eine progressive Freiheitsbewegung.“

Am Dienstag hat das georgische Parlament ein umstrittenes Gesetz zur stärkeren Kontrolle über die Zivilgesellschaft verabschiedet. Es verpflichtet Organisationen und Medien, die zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden, sich als Organe registrieren lassen, die die „Interessen ausländischer Mächte verfolgen“. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth, ist zur Abstimmung nach Tiflis gereist und hat an Demonstrationen gegen das Gesetz teilgenommen. Am Mittwoch ist er zurückgekehrt.

 

Anfang der Woche waren Sie in Tiflis und haben u.a. an Demonstrationen gegen das am Dienstag beschlossene „Agentengesetz“ teilgenommen. Wie ist die Stimmung bei den Menschen auf der Straße?

Natürlich ist die Enttäuschung groß, nachdem das georgische Parlament das Gesetz am Dienstag durchgepeitscht hat. In Georgien spricht man auch nur vom „russischen Gesetz“, weil die Sorge groß ist, dass es das Land immer mehr in die Arme Russlands treibt. Trotzdem lassen sich die Menschen nicht entmutigen und sind nach wie vor sehr hoffnungsvoll, dass ihr Protest zu einem europäischen und nicht zu einem russischen Georgien führt.

Von dem Gesetz betroffen sind vor allem Nicht-Regierungsorganisationen und zum Teil Medien. Warum bewegt es dennoch die breite Masse der Bevölkerung so sehr?

Der Autoritarismus bedient sich überall sehr ähnlicher Mechanismen. Die Zivilgesellschaft wird eingeschüchtert, Minderheiten – insbesondere sexuelle – werden diskriminiert und politische Mitbewerber werden zu Feinden erklärt und dämonisiert. Und generell wird behauptet, Unmut vor Ort sei von dunklen Mächten aus dem Ausland gesteuert. All das haben wir auch in anderen Ländern bereits zur Genüge erlebt. Die Menschen in Georgien haben dafür ein sehr gutes Gespür. Vor allem die junge Generation will Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Das „ausländische Agentengesetz“ beschränkt das Engagement von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien massiv. Es ist aber nur die Spitze des Eisbergs.

Inwiefern?

Als Georgien im Dezember vergangenen Jahres den Kandidatenstatus für die EU verliehen bekommen hat, gab es zwölf Auflagen der EU-Kommission. Davon wurde bislang keine einzige erfüllt. Es finden im Gegenteil sogar konkrete Rückschritte statt. Das hat uns die Staatspräsidentin bei einem Treffen bestätigt. Die politische Richtung Georgiens stimmt insgesamt nicht.

Welches Ziel verfolgt die Regierung damit?

Es geht ihr vor allem um den eigenen Machterhalt. Die Regierungspartei „Georgischer Traum“, die von einem reichen Oligarchen gelenkt wird, fürchtet um ihre Pfründe, wenn sie die strengen EU-Kriterien in Sachen Korruptionsbekämpfung, Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kultur erfüllen muss. Über kurz oder lang würde das ihre Macht infrage stellen.

Georgien ist also für den Weg nach Europa vorerst verloren?

Die georgische Regierung hat die Tür zur EU vorerst zugeschlagen. Aber diese Tür lässt sich jederzeit wieder öffnen, wenn dieses Gesetz zurückgenommen wird. Die Demonstrierenden in Tiflis brauchen deshalb gerade jetzt unseren Zuspruch und unsere Solidarität. 

Welche Rolle spielt dabei die anstehende Parlamentswahl Ende Oktober?

Diese Wahl wird ganz entscheidend. Die Polarisierung, die jetzt bewusst geschürt wird, dient dazu, die politischen Gegner der amtierenden Regierung zu diskriminieren und mit Lügen zu diskreditieren. Trotz der massiven Proteste halte ich es auch nicht für ausgeschlossen, dass der „Georgische Traum“ die Wahl im Oktober abermals für sich entscheiden und weiter die Regierung stellen wird. Die Opposition ist leider tief gespalten und in einem schlechten Zustand.

Sehen Sie Möglichkeiten, die Opposition zu unterstützen oder schadet das eher, weil das die Erzählung der Regierung, die Opposition werde aus dem Ausland gesteuert, befeuern könnte?

Dieses Argument höre ich immer wieder, halte es aber für Unsinn. Das darf keine Ausrede sein, die Opposition in Georgien nicht zu unterstützen. Die einzige Sprache, die die Freunde des Autoritarismus verstehen, ist Klarheit. Natürlich werden sie jede sich ihnen bietende Gelegenheit nutzen, die Glaubwürdigkeit und Integrität Europas und der Opposition in Zweifel zu ziehen. Davon sollten wir uns aber nicht beirren lassen – im Gegenteil. Wenn wir uns jetzt in Zurückhaltung üben, dann gewinnen die Autoritären in jedem Fall.

War das auch der Grund für Sie, jetzt nach Georgien zu reisen?

In Georgien erleben wir gerade eine progressive Freiheitsbewegung. Die georgische Regierung nimmt das auch genau so wahr und warnt vor „links-sozialistischen Verschwörungen von außen“. Deshalb war es mir wichtig, für den Besuch auch andere europäische Parlamentarier an Bord zu haben, die aus liberalen und konservativen Parteien kommen, um die Propaganda des „Georgischen Traums“ zu entlarven. Bei unserem Besuch ging es aber nicht nur um eine Solidaritätsbekundung gegenüber den Demonstrierenden, sondern auch darum, mit den Verantwortlichen in Regierung und Parlament zu sprechen.

Was Ihnen aber nicht gelungen ist.

Das stimmt. In meinen 26 Jahren Parlamentszugehörigkeit habe ich es noch nie erlebt, dass sich eine Regierung in Gänze einem Gespräch verweigert. Statt unsere Delegation ins Parlament vorzulassen, haben wir einen Ausschussvorsitzenden aus der Regierungspartei in der Zentrale des „Georgischen Traums“ für ein Gespräch getroffen. Er hat uns dann zum Beispiel erklärt, Salome Surabischwili sei nicht die Präsidentin Georgiens, sondern der Opposition, und habe das Ziel, die Regierung zu stürzen.

Die Bundesregierung und die EU fordern eine Rücknahme des Gesetzes. Ist das realistisch?

Den schwersten Fehler, den die EU machen könnte, wäre, nun mit der georgischen Regierung über Detailkorrekturen des Gesetzes zu verhandeln. Denn damit würde sie ja das Gesetz im Grundsatz akzeptieren. Stattdessen muss die Haltung klar sein: Mit diesem Gesetz kann es keine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen geben. Damit wäre der Beitrittsstatus für Georgien nichts mehr wert. Für ein Land, das vor gar nicht langer Zeit noch ein Musterknabe in Sachen EU-Annäherung war, wäre das ein schwerer Schlag.

Ich halte aber auch nichts davon, die Bevölkerung für den Kurs der Regierung zu bestrafen. Die Überlegung von einigen, die Visa-Freiheit für Georgien auszusetzen, wäre aus meiner Sicht ein schwerer Fehler. Den Preis dafür würden vor allem die jungen Menschen in Georgien zahlen. Ihnen müssen wir Hoffnung machen, dass die Tür nach Europa weiter offensteht, wenn die georgische Regierung ihre Schaukelpolitik zwischen der EU und Russland beendet.

Michael Roth

Michael Roth ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags und war von 2013 bis 2021 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.

Michael Roth ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags und war von 2013 bis 2021 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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4 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Sa., 18.05.2024 - 07:15

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Meine Sympathie für diesen Politiker hält sich in Grenzen.
Es fehlt in diesem Artikel, dass die USA ein ähnliches Gesetz zur Behandlung von sogenannten NGOs hat und dass auch die EU samt BRD an einem solchen Gesetz basteln.
Was denn mit den RT-Sendern in der EU ????
....... denn mit welchem Maß ihr messet werdet auch ihr gemessen werden (Ich kann Euch diesen Satz aus der "Bergpredigt" nicht oft genug um die Ohren hauen).

Gespeichert von Pt (nicht überprüft) am So., 19.05.2024 - 18:56

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Ist es nicht eine Anmaßung, nach Georgien zu fahren und mit den Deminstranten zu protestieren? In „westlichen“ Ländern wird teils strafrechtlich verfolgt, wenn sich ein anderes Land in die Innenpolitik einmischt, außer natürlich die USA in DE. Georgien ist eine Demokratie. PUNKT. Und die dürfen Gesetze machen, wie sie wollen. Und das „russische“ „Agentengesetz“ basiert auf dem FARA der USA aus dem Jahre 1938 (siehe Wikipedia!). Dieses Gesetz soll lediglich offenlegen, welche Länder sich mit viel Geld in die Innenpolitik einmischen. Die EU soll Pläne für ein ähnliches Gesetz haben. Wann ist ein deutscher Politiker nach London gefahren und hat für die Freilassung von Assange demonstriert, der seit 5 Jahren in Einzelhaft sitzt?

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Mo., 20.05.2024 - 13:55

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vor allem aus geopolitischen Erwägungen“.

“Michael Roth ist zur Abstimmung (über das „Agentengesetz“/ „russisches Gesetz“) nach Tiflis gereist und hat an Demonstrationen gegen das Gesetz teilgenommen“: Ein deutscher Politiker mischt sich persönlich und vor Ort in den georgischen Wahlkampf ein. (Darf der das – oder ist das eine „Aufrüstung im analogen Bereich“?) Allerdings ohne (erkennbaren) Erfolg, die „Regierung in Gänze verweigerte sich einem Gespräch“ mit ihm und seiner Delegation. So konnte er leider nicht beweisen, dass „die einzige Sprache, die die Freunde des Autoritarismus verstehen, Klarheit ist“ (- statt „Klarheit“ sagen unsere Wortgewaltigen auch gern „(militärische) Stärke“). Darum kann Roth auch nicht ausschließen, „dass der „Georgische Traum“, Albtraum des „europäischen ... Georgien“, die Wahl im Oktober abermals für sich entscheiden und weiter die Regierung stellen wird“. Georgien will also (vielleicht) nicht so, wie Roth möchte; und auch die „EU gewährte Georgien Ende 2023 den lang ersehnten Status als EU-Beitrittskandidat – letztlich wohl vor allem aus geopolitischen Erwägungen heraus“, bemängelt Roth.

Georgien ist mit knapp vier Millionen Einwohnern so groß wir Berlin, seine Fläche (70 000 km2) entspricht der Bayerns. Es hat Grenzen mit Russland, der Türkei, Armenien und Aserbeidschan (Südkaukasus). Das Land liegt geographisch in Vorderasien, gehörte politisch ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum zaristischen Russland, ehe es sich 1991 von der UDSSR trennte. (Treppenwitz der Geschichte: Stalin stammte aus Georgien.)
Georgien ist auf dem Landwege nur über die Türkei zu erreichen. Gehörte die Türkei zur EU, wäre Georgien ein Nachbarstaat, so aber ist der nächstgelegene EU-Staat ca. 1500 km entfernt. Falls Georgien bald in die EU aufgenommen würde, hätten „im Falle eines bewaffneten Angriffs auf dessen Hoheitsgebiet ... die anderen Mitgliedstaaten“ - also wir - große logistische Probleme, die ihm „geschuldete, alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ (Artikel 42,7 EUV) zu erbringen. Wie, um alles in der Welt, kommt die EU an/ auf Georgien!?

Die von Roth angesprochenen „geopolitischen Erwägungen“ fasst das Strategiepapier der (EU-) Kommission (KOM (2004) vom 12.5.2004) so zusammen: „Östlich der Europäischen Union (soll) ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entstehen, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können“. Der „Ring verantwortungsvoll regierter Staaten“ hieß nach Ende des Ersten Weltkrieges „cordon sanitaire“ und bezeichnete damals wie heute einen „Gürtel aus unabhängigen Staaten zwischen der Sowjetunion (/Russische Föderation) und dem westlichen Europa“ (Wikipedia). Damals wie heute geht es um die Staaten von Finnland bis Rumänien/ Bulgarien. Allgemeiner, geht es um „Pufferstaaten zwischen Machtblöcken“ (bpb), die die „Pufferstaaten“ als ihre Einflusszonen betrachten. Die EU sicherte ihren Einfluss auf den „Ring... (von) Staaten“ durch ein Europäisches Nachbarschaftsprogramm (ENP) – noch ergänzt um das EU-Programm Östliche Partnerschaft, durch das „die Beziehungen der EU zu ihren direkten Nachbarn ... Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine ... auf eine neue Grundlage gestellt und in allen Bereichen ausgebaut wurden (AA, 28.12.2020) -, das den Nachbarn „Stabilität, Sicherheit und Wohlstand“ versprach und der EU die Durchsetzung ihrer „Ziele im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik“. Bei Georgien kam ausdrücklich noch die Energiebeschaffung hinzu, „denn der südliche Kaukasus ist für die Energieproduktion (Kaspisches Becken) und als Transitregion für Energie sehr wichtig“.

Die Ukraine, aber erst recht Georgien, liegen nicht auf einem „Ring“ um die EU; ein „Ring“ vom Baltikum bis Georgien hat – geographisch und geometrisch - die Russische Föderation zum Zentrum. Und genau darum geht es, um die Eindämmung der Russischen Föderation durch einen „Ring“ westlich ausgerichteter Staaten an der russischen Westflanke – auch wenn unsere Wortgewaltigen immer nur von Werten, unseren Werten, sprechen. Eine solche Strategie ist völlig legitim, wird aber zu einem Problem mit großem Konfliktpotenzial, wenn der Eingedämmte sie nicht akzeptieren will und gleichzeitig praktiziert, was der Stratege Klingbeil in unsere Politik implementieren möchte, nämlich „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“ (Vorwärts, 21.6.22). Das „Konfliktsystem“ wird potenziert, wenn, wie die Regel, die EU-Mitgliedschaft (fast) immer von einer Nato-Mitgliedschaft begleitet wird. Der Krieg um die Ukraine zeigt exemplarisch, wie ein Konfliktsystem in einem Desaster enden kann: Die Nato beharrte gegenüber der Russischen Föderation auf ihrer Strategie, dass „eine starke, unabhängige Ukraine für die Stabilität des euro-atlantischen Raumes unerlässlich ist“ (Strategisches Konzept der NATO 2022); „Versuche, mit Moskau über eine andere Form (außer dem Nato-Beitritt) von Sicherheit für ehemalige Sowjetrepubliken wie die Ukraine oder Georgien ins Gespräch zu kommen, gab es nicht; ... der Westen hätte (sonst) seine Prinzipien verraten“ (H. A. Winkler).

EU und SPD wollen, dass Georgien in die EU aufgenommen wird in der Gewissheit, dass „zu einer weitsichtigen Außenpolitik strategisches Denken und Handeln gehören“, das sich darin zeigt, dass „im Konflikt mit Putins Russland die EU eines ihrer erfolgreichsten Instrumente wiederentdeckt hat: die Erweiterungspolitik“, sodass „für unsere künftige Osteuropapolitik gilt, so schnell wie möglich die Voraussetzungen für die Aufnahme der Ukraine, Moldaus und perspektivisch Georgiens zu schaffen und den Aufnahmeprozess in die EU abzusichern“. Bei dem dadurch - vermutlich – zu erwartenden nächsten „Konflikt mit Putins Russland“ um Georgien will die SPD auch noch eine „Führungsrolle einnehmen“ (Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch (20.1.23)).

Galgenhumor-Trost: Vielleicht lässt sich „Putins Russland“ dann mit dem von Pistorius wiederholt angesprochenen Angriff auf die Nato/ auf uns noch 20 Jahre Zeit, statt in fünf zu kommen.