Richtungswechsel in Litauen: Sozialdemokraten wollen Konservative ablösen
Die Menschen in Litauen sorgen sich vor einem Angriff durch das Nachbarland Russland. Jetzt haben sie sozialdemokratisch gewählt. Was bedeutet der Machtwechsel? Ein Interview mit Jolanta Steikunaite, der Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung vor Ort.
IMAGO / Xinhua
Vilija Blinkeviciute, Parteichefin der Sozialdemokraten, freut sich über den Wahlsieg.
Mit 52 von 141 Sitzen im Parlament haben die oppositionellen Sozialdemokraten die Wahlen gewonnen und streben ein Mitte-links-Bündnis an, um die regierende konservative Vaterlandsunion abzulösen. Kam der Wahlsieg überraschend?
Ja, damit haben wir nicht gerechnet. Das letzte Mal waren die Sozialdemokrat*innen vor acht Jahren Teil einer Koalition, bei den Wahlen vor vier Jahren gewannen sie noch ganze 39 Sitze weniger als jetzt. Parteichefin Vilija Blinkeviciute hat das einen „historischen“ Sieg genannt, denn lange Zeit wurde die Sozialdemokratie in den baltischen Staaten in Verbindung mit dem Kommunismus der Sowjetunion gesehen.
Litauen steht wirtschaftlich eigentlich gut da. Wieso fordern die Menschen in Litauen einen Richtungswechsel?
Es ist ziemlich typisch für Litauen, dass nach einer Legislaturperiode wieder ein Wechsel ansteht. Aber die jetzige Regierung der Konservativen hat auch viele Fehler gemacht. Es gab Skandale in der Führungsriege, die Menschen sind müde nach einer Reihe an Reformen. Selbst in ehemaligen Konservativen-Hochburgen wie in der Stadt Kaunas haben die Menschen für die Sozialdemokrat*innen gestimmt.
Überall in Europa erstarken Rechtspopulisten. In Litauen hat die neu gegründete „Morgenröte“-Partei nun 20 Sitze bekommen. Könnten sie den EU-freundlichen Kurs des Landes gefährden?
Die „Morgenröte“ hat Proteststimmen gesammelt, das hatte Umfragen unmittelbar vor den Wahlen bereits gezeigt. Alle anderen Parteien haben eine Zusammenarbeit mit ihr ausgeschlossen. Was den EU-freundlichen Kurs des Landes betrifft, muss man wissen, dass in Litauen der Staatspräsident die Befugnisse in der Außen- und Verteidigungspolitik hat, er ist auch Oberbefehlshaber der Armee. Staatspräsident Gitanas Nausėda wurde gerade erst für weitere fünf Jahre bestätigt und tritt für eine starke Verbindung mit der Nato und für mehr Ukraine-Hilfen ein. Selbst wenn die Rechtspopulisten einmal mehr Macht bekommen sollten – die baltischen Staaten sind eifrigste Nato- und EU-Anhänger, und unser Staatspräsident garantiert diesen Kurs.
Jolanta Steikunaite,
FES-Büro
Litauen
Wohin wird Putin seine Aggressionen lenken, wenn der Ukraine-Krieg einmal beendet ist?
Litauen liegt an der Ostflanke der Nato und der EU und grenzt an die russische Exklave Kaliningrad und Belarus. In einer Umfrage von Mai hielten drei Viertel der Befragten einen Angriff durch Russland für möglich. Wie sehr spielte das Thema eine Rolle im Wahlkampf?
Das Thema beeinflusst die Menschen hierzulande stark. Wir fragen uns: Wohin wird Putin seine Aggressionen lenken, wenn der Ukraine-Krieg einmal beendet ist? Unsere Geschichte hat uns gelehrt, dass Russland kein zuverlässiger Nachbar ist. Im Wahlkampf spielte deswegen die äußere Sicherheit eine große Rolle. Litauen will seine Ausgaben für Verteidigung auf über drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöhen. Die Unternehmerschaft hat sich dazu bereit erklärt, höhere Steuern zu zahlen, um die Ausgaben weiter auf vier Prozent zu heben. Die neue Regierung wird wahrscheinlich Vermögen stärker besteuern. Wir wollen deswegen nicht nur auf unsere Nato-Partner vertrauen, sondern selbst zeigen, dass wir etwas tun.
Wie sehen das Russ*innen, die in Litauen leben?
Unter den 2,9 Millionen Einwohnern sind etwas weniger als fünf Prozent ethnische Russ*innen mit litauischer Staatsangehörigkeit. Diese Minderheit spielt hier nicht so eine große Rolle wie etwa in Lettland.
Wie steht Litauen zu Deutschland?
So gut wie jetzt waren die Beziehungen zwischen Litauen und Deutschland noch nie. Jeder hier kennt den Namen von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Die Menschen in Litauen blicken zum Beispiel sehr positiv darauf, dass Deutschland ab 2027 tausende Soldaten in ihrem Land stationiert. Das bedeutet für uns Sicherheit und Sicherheit ist Freiheit.