Gezielte Einflussnahme: Was hinter der Gewaltwelle in Großbritannien steckt
Nach der Ermordung dreier Mädchen in Southport erschüttert eine rechtsextrem gesteuerte Gewaltwelle Großbritannien. Woher die Gewaltbereitschaft kommt und wie gezielte Falschmeldungen die Ausschreitungen anfeuern, sagt Michèle Auga von der Friedrich-Ebert-Stiftung.
IMAGO / ZUMA Press Wire
Aus dem Internet auf die Straße: rechtsextrem motivierte Proteste in Manchester am 3. August 2024
Großbritannien wird von einer Welle der Gewalt erschüttert, Bilder von rechten Mobs, die Moscheen und Migranten angreifen und Jagd auf alles „Unbritische“ machen, gehen um die Welt. Wie ist die Situation im Land?
Die Zivilgesellschaft und die Politik sind geschockt. Großbritannien hat anstrengende Monate hinter sich mit vorgezogenen Neuwahlen, einer Wahlkampagne und einem Regierungswechsel. Eigentlich brauchten alle eine Pause. Mitten in das ersehnte Sommerloch platzten nun diese Nachrichten. Das Thema Migration war von vielen Menschen lange nur noch an dritter Stelle der wichtigsten Themen genannt worden. Die Wirtschaft und der Nationale Gesundheitsdienst schienen wichtiger.
Obwohl es berechtigte Fragen zum Thema Einwanderung gibt, ist sich die breite Öffentlichkeit einig, dass es nun auf eine perfide Art und Weise missbraucht wurde. Wie es weitergeht, ist schwer vorherzusagen. Die BBC hat mindestens 30 weitere Demonstrationen identifiziert, die von rechtsextremen Aktivisten in ganz Großbritannien geplant sind, aber es ist unklar, wie viel Unterstützung diese haben werden.
Im Internet finden sich auf den üblichen Plattformen zahlreiche Gerüchte und Desinformationen. Es gibt Hinweise, dass diese teilweise aus dem Ausland gestreut werden. Was ist da dran?
Britische Terrorexperten sind sich einig: Die Analyse der Sozialen Medien zeigt ein klares Muster von Einflussnahme, die die Menschen dazu bringen soll, nicht nur zu protestieren und sich zu versammeln, sondern auch mit Gewalt, Brandstiftung und Meuchelmord vorzugehen. Es hat in den letzten Monaten immer wieder Messerattacken auf britischen Straßen gegeben. Erst im April war dabei ein 14-jähriger Schwarzer Junge ums Leben gekommen. Niemals hatte der berechtigte Protest dagegen jedoch dieses Ausmaß erreicht. In diesem Fall hat ein obskures, mit Russland verbundenes Fake-News-Outlet den Täter von Southport als 17-jährigen angeblich muslimischen Asylbewerber bezeichnet, der vor einem Jahr in einem der Boote über den Ärmelkanal angekommen sei. Channel3 Now ist eine Website, die sich zwar als seriöser amerikanischer Nachrichtendienst ausgibt, aber Behauptungen aufgrund von Spekulationen verbreitete.
Der angebliche Tätername wurde von Tausenden mit Russland verbundenen Konten aufgegriffen und dann von russischen Staatsmedien wiederholt. Ein mit der Hooligan-Organisation English Defence League verbundener Influencer rief daraufhin zu landesweiten Protesten auf. Sein Video wurde über eine Million Mal angesehen. Der Inhalt ist eindeutig volksverhetzend. Die Analyse auch kleinerer öffentlicher Telegram-Gruppen ergab, dass die Falschmeldung ein großes Publikum erreichte, darunter auch ganz normale Menschen ohne jegliche Verbindung zu rechtsextremen Gruppen.
Da viele der rechtsextremen Aktivisten bis vor kurzem auf der Plattform X gesperrt waren, riefen Nutzer über lokale Telegram- und Facebook-Seiten spontan zu Protesten vor örtlichen Moscheen auf. Grafiken und Memes wanderten von dort zu TikTok, X und Facebook und wurden weit verbreitet. Besonders verbreitet sind auch Live-Videos. Darin wird eine „polizeiliche Unterdrückung friedlicher Demonstranten, die über die Ermordung weißer Kinder besorgt sind“, beschrieben, was für einen Solidarisierungseffekt sorgen sollte. Diese Live-Berichterstatter standen alle in direkter Verbindung zur English Defence League. Auf X wurde für Stimmung gesorgt, aber die Strippenzieher saßen ganz woanders, zum Beispiel im Urlaub auf Zypern.
Nigel Farage, dessen Partei Reform UK nun mit fünf Sitzenim Unterhaus vertreten ist, goss ebenfalls Öl ins Feuer. Er griff Premierminister Keir Starmer an und behauptete fälschlicherweise, Starmer habe alle friedlich protestierenden Bürger als rechtsradikal bezeichnet. Das führte dazu, dass der Hashtag „Starmer“ überall auf den Plattformen dominierte und es gar nicht mehr um die Gewalt ging. Es schien fast so, als würde man versuchen, den Begriff „rechtsextrem“ zu normalisieren und ihn zum Synonym für den durchschnittlichen Reform-Wähler zu machen. Die meisten Posts kamen von Pro-Reform-Konten, bei zwei Dritteln von ihnen waren die Inhalte kopiert, eingefügt und sehr oft geteilt worden, obwohl diese Konten nicht viele Follower haben. Datenanalysten fanden auch sehr viele KI-Konten, die die Desinformationskampagne gepusht haben. Eine ehemalige Mitarbeiterin der Muttergesellschaft von Cambridge Analytica, der Organisation, die für die Brexit-Kampagne genutzt wurde, schien ebenfalls involviert zu sein.
Woher kommt die Gewaltbereitschaft in Teilen der britischen Gesellschaft?
Es ist deutlich geworden, dass die Akteure, die hinter der English Defence League stehen, bewusst provozieren und Gewalt auslösen wollten. John Denham, Innenminister unter Blair, verglich deren Taktik mit dem Agieren der British Union of Fascists in den 1930er Jahren. Die heutige Struktur der Hooligan-Szene ist ein idealer Nährboden für diese Form von Mobilisierung. Man benötigt keine formalisierte Mitgliederstruktur mehr, sondern steuert die Sozialen Medien über eine Handvoll Influencer.
Es gibt zahlreiche Untersuchungen über den sozialen Hintergrund der vornehmlich weißen jungen Männer, ihr niedriges Bildungsniveau, die Funktion von Gewalt zur Stärkung des Selbstwertgefühls oder die Rolle von Alkohol. Während es früher jedoch nur Schlägertruppen waren, planen sie heute ihre Aktionen und sind sowohl finanziell als auch international vernetzt. Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist, dass es sich mittlerweile um paramilitärische Einheiten handelt, die strategisch vorgehen. Der Staat kann nur mit präventiver Polizeiarbeit, mit sozialen Programmen zur Deradikalisierung und mit einer konsequenten Strafverfolgung dagegen vorgehen. Stattdessen hat das jahrelange Sparprogramm der letzten Regierung die Sozial- und Polizeiarbeit behindert. Entscheidungsträger bei der Polizei sprechen davon, dass ihnen 3,2 Milliarden Pfund fehlten, um effektive Verbrechensbekämpfung leisten zu können.
Die soziale Lage im Land hat sich seit 2010 radikal verschlechtert. Mehr als einer von fünf Menschen im Vereinigten Königreich, 14,4 Millionen Menschen, ist von Armut betroffen. Fast drei von zehn Kindern leben in Armut. Insbesondere alleinerziehende Mütter sowie Schwarze, Asiaten und andere ethnische Minderheiten sind stark von Armut betroffen. Bei den Ausschreitungen sah man jedoch keine alleinerziehenden Mütter oder arme Schwarze, sondern sehr viele junge weiße Männer.
Die Zahl der über den Ärmelkanal kommenden Flüchtlinge ist trotz strikter Asylpolitik der Tories in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Das Land wird immer wieder von ethnisch motivierten Auseinandersetzungen und Ausschreitungen von Migranten heimgesucht. Gibt es abseits der rechtsextremen Gewalt nicht auch eine legitime Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung mit der Migrationspolitik?
Unter den Tories war es nicht möglich, die Frage von Einwanderung als Sachthema zu diskutieren. Das Thema wurde unter anderem in der Brexit-Kampagne instrumentalisiert und als Wahlkampfthema missbraucht. Wohl kaum ein anderes Thema lässt sich so sehr nutzen, um von Problemen abzulenken, etwa dem Rückgang staatlicher Finanzierung für den Bau von Sozialwohnungen oder von fehlenden Jobs aufgrund einer ausbleibenden Industriestrategie. Fakt ist, dass die Einwanderzahlen aus Europa zurückgegangen sind und dass die aus dem Commonwealth zugenommen haben. Ursache hierfür ist der Brexit. Die Ausschreitungen richteten sich jedoch nicht gegen weiße Schweden oder Franzosen, sondern sind eindeutig rassistisch motiviert.
Wie im Lehrbuch haben die Tories und mit ihr die britische Demokratie seit 2010 eine stetige Entwicklung hin zum Populismus durchlaufen und die Frage von Identität zu einem Schlüsselthema gemacht. Wir haben viele Jahre gesehen, in denen der Kulturkampf gepflegt wurde. Ehemalige Berater von Boris Johnson werfen den Toriesvor, mit ihrer Sprache Hass geschürt zu haben. Die Hassrede habe sich dabei nicht nur gegen Migranten gerichtet, sondern auch gegen andere Minderheiten. Insofern wächst die Angst auf allen Seiten.
Die Ausschreitungen sind der erste große Test für den neuen Premierminister Keir Starmer. Wie will er die Lage beruhigen?
Starmer ist ehemaliger Generalstaatsanwalt und hat Erfahrungen mit den Unruhen von 2011. Rechte Fernsehsender wie GB News bemühten sich, ihm Aussagen zu Geflüchteten oder zur „political correctness“ abzuringen, doch er äußerte sich wenig zu den kultur- und identitätspolitischen Kämpfen. Genau das scheint auch jetzt seine Strategie zu sein. Anstatt auf die vorgeschobenen Argumente der Gewalttäter einzugehen, stellt er ihre Herkunft aus der Hooligan-Szene in den Vordergrund und benennt die Strippenzieher. Er griff unter anderem auch Elon Musk an. Starmer hat eine Art Taskforce ins Leben gerufen, Urlaubssperren für Polizisten verhängt und 130 zusätzliche Einheiten mit über 2.000 Polizisten aufgestellt. „Take back our Streets“ war Schwerpunkt von Labour im Wahlprogramm. Der wahre Gegner scheint aber in den Sozialen Medien zu sitzen.
Michèle Auga leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in London. Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.
Alexander Isele ist Redakteur beim IPG-Journal. Konstantin Hadži-Vuković ist im Referat Globale und Europäische Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig.
Erschreckend
Russland steckt also hinter der Anstiftung zu den Krawallen.