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Warum in Großbritannien der erste Generalstreik seit 100 Jahren droht

Die Inflation macht sich in Großbritannien massiv bemerkbar. Das Land erlebt so viele Streiks wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die konservative Regierung reagiert mit autoritären Mitteln. Doch das könnte nach hinten losgehen.
von James Hoctor · 24. Februar 2023
Die konservative Regierung im Vereinigten Königreich versucht das Streikrecht mit autoritären Mitteln zu untergraben.
Die konservative Regierung im Vereinigten Königreich versucht das Streikrecht mit autoritären Mitteln zu untergraben.

Seit Sommer 2022 sind in Großbritannien Hunderttausende Arbeitnehmer*innen in den Bereichen Transport, Gesundheit, Ausbildung, Öffentliche Dienste und auch im privaten Sektor in den Streik getreten. Sie fordern höhere Löhne, sichere Arbeitsplätze, das Ende prekärer Arbeitsverhältnisse und der Privatisierung sowie die Anerkennung der Gewerkschaften. Da die Verhandlungen mit den Arbeitgeber*innen und der Regierung keine zufriedenstellenden Ergebnisse gebracht haben, stimmen die Gewerkschaftsmitglieder zunehmend für Arbeitskämpfe. Im letzten Jahr hat die Anzahl der Arbeitstage, die durch Streiks verloren gingen, den höchsten Stand seit 1989 erreicht, und zunehmend ist die Rede von einem Generalstreik, den es in Großbritannien seit 1926 nicht mehr gegeben hat.

Dies hat Gründe, denn die Beschäftigten leiden unter einem historischen Rückgang ihres Lebensstandards. Die Sparpolitik der 2010er-Jahre hat der britischen Wirtschaft und Gesellschaft langfristig geschadet, und die nachfolgenden wirtschaftlichen Schocks durch die COVID-19-Pandemie und die steigende Inflation von 2022 haben die Krise noch verstärkt. Dass die konservative Regierung die Streiks zunehmend mit rechtlichen und politischen Mitteln bekämpfen will, verdeutlicht den politischen Charakter der Arbeitskämpfe, hinter denen sich eine neu erstarkte Linke versammelt. Die Arbeitnehmer*innen streiken also, um ihre Position zu stärken und sich das zurück zu erobern, was ihnen zusteht – nachdem ihnen im letzten Jahrzehnt das Lohnwachstum und die Sicherheit gestohlen wurden.

Forderungen

Bereits vor dem Sommer 2022 begannen die Gewerkschaften, ihre Mitglieder über mögliche Streiks abstimmen zu lassen. Die Beschäftigten von Bahn, Post und Telekommunikationsgesellschaften gingen dabei ziemlich aggressiv vor. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Bezahlung, aber auch der Widerstand gegen ‚Umstrukturierung’ – ein Euphemismus für Arbeitsplatzverluste und den Abbau von Beschäftigungsstandards. Im Herbst begannen dann auch andere Beschäftigte des öffentlichen Sektors zu streiken – darunter Lehrer*innen, Universitätsmitarbeiter*innen, Beamt*innen und vor allem Krankenpfleger*innen. Das ziemlich gemäßigte Royal College of Nursing (RCN) hatte in seiner 107-jährigen Geschichte noch nie zuvor zum Streik aufgerufen.

Die Reallöhne dieser Beschäftigten im öffentlichen Sektor sind seit 2010 nicht mehr gestiegen, was einen Mangel an Arbeitskräften zur Folge hatte. Den streikenden Krankenpfleger*innen und Lehrer*innen geht es primär um Lohnerhöhungen, aber sie wollen nicht nur gegen ihre eigene schlechte Behandlung protestieren, sondern auch auf die erheblichen Missstände im britischen Ausbildungs- und Gesundheitssystem aufmerksam machen. Also streiken sie auch zum Wohl der Patient*innen und Schüler*innen, und werden dabei von der Öffentlichkeit unterstützt.

Die Streiks im privaten Sektor mögen zwar auf weniger öffentliche Resonanz stoßen, sind aber für die Zukunft der britischen Gewerkschaften nicht weniger wichtig. Unter anderem wehren sich die Mitarbeiter*innen von Schuhfabriken, Keksherstellern und Flughäfen mit effektiven Arbeitskämpfen gegen sinkende Standards. Amazon-Mitarbeiter*innen in Coventry kämpfen gemeinsam mit der Gewerkschaft GMB eine entscheidende Schlacht für Gesundheits- und Sicherheitsstandards, bessere Arbeitszeiten und gewerkschaftliche Anerkennung. Dies deutet darauf hin, dass sich die Streikwelle auf wirtschaftliche Sektoren ausweitet, die traditionell schwer gewerkschaftlich zu organisieren sind.

Inflation

Wie auch in anderen Ländern finden die Streiks vor dem Hintergrund einer hohen Inflation statt, die in Großbritannien heute bei mehr als 10 Prozent liegt und zuvor bereits auf 14 Prozent gestiegen war. Dass die britische Wirtschaft nicht in der Lage ist, die Einkommen gegen den wirtschaftlichen Schock von 2022 abzuschirmen und sich von vorherigen Schocks zu erholen, hängt eindeutig mit der Sparpolitik der konservativen Regierungen ab 2010 zusammen. Seit dieser Zeit geht das Investitions- und Produktivitätswachstum zurück, die prekären Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu und die Löhne stagnieren: Vor 2007 war das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Großbritannien noch höher als in Frankreich oder Deutschland, aber 2018 lag es bereits neun Prozent beziehungsweise 16 Prozent darunter.

Mit der Sparpolitik gerieten nicht nur die Löhne und der Lebensstandard unter Druck, sondern auch die staatlichen Möglichkeiten zum Schutz und zur Förderung der Bürger*innen. Durch rechtliche Barrieren gegen gewerkschaftliche Organisation – wie restriktive Wahlhürden und ein komplexes System gewerkschaftlicher Anerkennung – wird den britischen Beschäftigten die Beteiligung an Tarifverhandlungen schwerer gemacht als beispielsweise ihren deutschen Kolleg*innen, und daher greifen sie zu militanteren Maßnahmen. Wären anderen Sektoren wie soziale Dienstleistungen so stark gewerkschaftlich organisiert wie der Gesundheits- und Ausbildungsbereich, würde sicherlich auch dort viel mehr gestreikt.

Politische Folgen

Zunächst wollte die britische Regierung die Streiks bekämpfen, indem sie wenig überzeugend vor einer mythischen „Lohn-Preis-Spirale“ warnte – einem Phänomen, das sich nie verwirklicht hat. Als dieses Argument nicht mehr zog, wurde ein neues Streikgesetz (Strikes Bill, Minimum Level Services) vorgeschlagen, das die Gewerkschaften dazu zwingt, einige ihrer Mitglieder trotz des Streiks arbeiten zu lassen, was den Arbeitskampf massiv untergräbt. Die Regierung behauptet, dies sei in Europa gängige Praxis. Was sie dabei nicht erwähnt, ist, dass in 85 Prozent der europäischen Länder, in denen es solche Gesetze gibt, Tarifverhandlungen nicht von der Regierung erzwungen, sondern zwischen Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften ausgehandelt werden.

Die Gewerkschaften sind bei diesem Kampf größtenteils auf sich selbst gestellt. Die gemäßigt ausgerichtete Labour-Partei hat den Gesetzesvorschlag zwar kritisiert, aber die Streiks nicht aktiv unterstützt. Der gewerkschaftliche Dachverband Trades Union Congress (TUC) will das Gesetz juristisch anfechten, und die Gewerkschaften haben bereits gemeinsame Arbeitskämpfe dagegen organisiert. Mit dem Gesetz wird die politische Brisanz auf jeden Fall erhöht, und wie andere autoritäre Versuche, Widerstand zum Schweigen zu bringen und die Krise im Keim zu ersticken, dient es dazu, die Opposition zu demoralisieren und zu entzweien.

Es kann aber gut sein, dass sich die Regierung übernommen hat. Führende Gewerkschaftler*innen haben sich auf langfristige Arbeitskämpfe eingestellt, und die Streikwelle hat nicht nur im öffentlichen Dienst eine erhebliche Dynamik erreicht, sondern auch bei der weniger gut organisierten, schlechter verdienenden und migrantisch geprägten Arbeiterklasse. Da es in den letzten Jahren an der nötigen politischen Führung gemangelt hat, um einen neuen Konsens zu erreichen, sind es nun die streikenden britischen Arbeitnehmer*innen und ihre vielen Millionen Unterstützer*innen, die sich für eine demokratische Volkswirtschaft und eine antagonistischere Politik einsetzen.

Hier finden Sie die englische Version des Artikels

Autor*in
James Hoctor

ist Projektmanager im Londoner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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