Meinung

Nach dem Brexit: Warum es in Großbritannien wirtschaftlich bergab geht

Brexit revisited - So könnte man eine Debatte nennen, die derzeit in Großbritanniens Medien, Pubs und privaten Haushalten Diskussion anfacht. Auf dem Kontinent weniger wahrgenommen, beginnt man in Brüssel, sich Gedanken zu machen.
von Kay Walter · 14. Dezember 2022
Mehr als die Hälfte der britischen Bevölkerung hält den Brexit für einen Fehler
Mehr als die Hälfte der britischen Bevölkerung hält den Brexit für einen Fehler

Zwei Mal pro Jahr erhebt und bewertet das Office for Budget Responsibility (ORB) die zentralen Wirtschaftsdaten im Vereinigten Königreich, etwa so, wie der Rat der Wirtschaftsweisen in Deutschland. Die Novemberzahlen fielen dabei noch erheblich schlechter aus als die bereits miserablen Daten im März. Eine Ohrfeige für die Regierung.

Wirtschaft schrumpft, Inflation steigt

Das ORB konstatiert eine Inflationsrate von 11,1 Prozent und weist dabei darauf hin, dass die Rate ohne die staatliche Garantie für Energiepreise noch um weitere 2,5 Prozent höher ausgefallen wäre. Für das kommende Jahr wird darüber hinaus ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 1,4 Prozent prognostiziert.

Weiter und schlimmer: „Steigende Preise untergraben die Reallöhne und senken den Lebensstandard um insgesamt sieben Prozent in den zwei Geschäftsjahren bis 2023-24 - was das Wachstum der letzten acht Jahre zunichtemacht.“ Und bevor die Regierung des neuen Premiers Rishi Sunak auch nur versuchen konnte, die Daten erneut mit dem Ukrainekrieg und seinen Folgen zu entschuldigen (wie es Boris Johnson und Liz Truss gemacht hatten), hob das ORB deutlich hervor, dass sämtliche britischen Handelsdaten um mindestens 15 Prozent besser wären, wenn das UK noch Mitglied der EU wäre.

In der Brexit-Kampagne war den Brit*innen versprochen worden, dass die Lebensmittelpreise sinken werden, dass erheblich mehr Geld für öffentliche Gesundheitsversorgung durch den National Health Service zur Verfügung stünde und dass die Wirtschaft innovativer und erfolgreicher werde. Die realen Zahlen belegen das exakte Gegenteil. Lebensmittel werden knapper und teurer, die Gesundheitsversorgung steht kurz vor dem Kollaps und alle Wirtschaftsdaten weisen scharf nach unten.

Brexit als Fehler?

Viele Menschen auf der Insel stellen sich längst die Frage, welchen Anteil der Brexit an ihrer wirtschaftlich schwierigen Situation hat. Die aktuelle Umfrage von YouGov kommt zu dem Ergebnis, dass unterdessen 56 Prozent den Brexit für einen Fehler halten. Mehr noch: Jede/r fünfte Brexit-Befürworter*in sieht sich getäuscht.

Als Premier Sunak nun auch noch ein neues Einwanderungsrecht ankündigen musste, um dem steigenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken – zum Beispiel haben über 4.000 Ärzt*innen die Insel verlassen – brach eine Debatte los. Nahezu sämtliche Zeitungen, ob seriös oder Boulevard, konservativ, liberal oder sozialdemokratisch orientiert, titelten zum Brexit. Und das in einer Art und Weise, als wäre der nicht seit zwei Jahren Realität. Die einen malen das Schreckgespenst einer Rückkehr in die EU an die Wand, andere hoffen auf einen Wiederannährung. Die „Sunday Times“ berichtete, Rishi Sunak und seine Regierung strebten das Schweizer Modell als Vorbild der Relation EU – UK an. Wichtigster Beleg war eine Einlassung von Finanzminister Jeremy Hunt, er werde „die große Mehrheit aller Handelshemmnisse mit der EU“ beseitigen.

Zur Erläuterung: Die Schweiz hat sehr weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt, ist Teil des visumfreien Schengen-Raums und der EU-Forschungs- und Bildungsprogramme. Umgekehrt akzeptiert sie die enge Angleichung an EU-Gesetze und zahlt in ausgewählte gemeinsame Töpfe der EU.

Der Druck auf Sunak war derart groß, dass er sich gezwungen sah in Birmingham vor Wirtschaftsführer*innen vehement zu dementieren: „Lassen Sie mich in Bezug auf den Handel unmissverständlich sein. Unter meiner Führung wird das Vereinigte Königreich keine Beziehung zu Europa anstreben, die auf der Angleichung an EU-Gesetze beruht.“ Und der Premier fügte hinzu: „Ich habe für den Brexit gestimmt, ich glaube an den Brexit. Und ich weiß, dass der Brexit enorme Vorteile für das Land bringen kann und bereits bringt.“

Brüssel reagiert entspannt

Worin die bereits erbrachten Vorteile bestehen sollen, sagte Sunak nicht. Er hätte es den Wirtschaftsbossen wohl auch nicht erklären können. Zu offensichtlich ist das Gegenteil richtig. Die von den Brexiteers angekündigten Handelsabkommen gibt es nur mit den ehemaligen Kronkolonien Neusseland und Australien und sie sind, zurückhaltend formuliert, kein Deut besser als die der EU. Dafür fehlen der Wirtschaft gut ausgebildete Fachkräfte.

Produktivität und Umsätze fallen. Denn während Großbritannien für die meisten EU-Staaten ein wichtiger Handelspartner gewesen ist, war andersherum die EU für das Vereinigte Königreich der zentrale Partner. Das spürt man nun. Alle Wirtschaftsinstitute kommen zu ähnlichen Daten wie das ORB, die britische Wirtschaft gehe erkennbar stärker zurück als die Märkte innerhalb der EU und sie verliere darüber hinaus langfristig an Dynamik.

Auch deshalb reagiert Brüssel ziemlich entspannt. Kommissionssprecher Daniel Ferrie erklärte, dass „jede Beziehung zwischen der Europäischen Union und einem Drittland auf dem Gleichgewicht von Rechten und Pflichten beruht“ und dies sei in diesem Fall durch die bestehenden Brexit-Scheidungsvereinbarungen geregelt. Übersetzt bedeutet das: wenn das UK eine Annäherung sucht, hat niemand etwas dagegen. Aber dann muss die Regierung in Westminster ganz offiziell konkrete Vorschläge unterbreiten. Sonst, so heißt es auf den Fluren in Brüssel, redete mal wieder London mit London, in dem Versuch herauszufinden, was London letztlich akzeptieren könnte. Diesen abstrusen Zustand kenne man hinlänglich aus den mühsamen Brexit-Verhandlungen.

Eine Wiederannäherung Großbritanniens an die EU wäre objektiv im Interesse beider Seiten. Praktisch steht sie allerdings schon deshalb nicht an, weil weder die Konservativen noch Labour das ernsthaft betreiben würden. Britische Medien führen, wie es aussieht eine Pseudodebatte, der es weitgehend an Grundlage fehlt.

Autor*in
Avatar
Kay Walter

ist freiberuflicher Journalist in Paris.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare