Europawahl: Wer die Spitzenkandidat*innen in Frankreich sind und was sie wollen
Dass der rechtsextreme Rassemblement National die Europawahl in Frankreich gewinnt, gilt als ausgemacht. Interessant ist aber, wie sich die Parteien dahinter formieren. Das hat auch Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahl 2027.
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Hofft auf ein gutes Ergebnis der PS bei der Europawahl: Spitzenkandidat Raphael Glucksmann
Nicolas Schmit und Ursula von der Leyen besetzen die europaweiten Toppositionen der beiden stärksten Listen im Wahlkampf zum EU-Parlament, dahinter die nationalen Spitzen. Sie stehen, gerade in Frankreich, mehr für innenpolitische Ziele, denn für die Union.
Diese Feststellung gewinnt zusätzlich an Gewicht, weil sich nach den Juniwahlen nicht allein die europäischen Mehrheitsverhältnisse voraussichtlich nach rechts verschieben dürften, sondern zusätzlich auch die Positionen innerhalb des bürgerlich-konservativen Lagers. Und gerade die französischen Republcains blinken ziemlich unverblümt nach rechtsaußen.
Gibt es eine demokratische Mehrheit nach dem 9. Juni?
Nach den jüngsten Hochrechnungen darf die konservative EVP im nächsten EU-Parlament mit rund 180 Sitzen rechnen und wird wohl stärkste Fraktion werden, gefolgt von den Sozialdemokraten der SPE mit knapp 140 Sitzen. Allerdings erwarten die beiden europakritischen, populistisch bis rechtsextremen Fraktionen EKR und ID zusammengenommen deutlich über 160 Mandate und einen Zuwachs um rund ein Drittel. Ob sich nach den Wahlen vom 9. Juni eine demokratische Mehrheit im Parlament wird bilden lassen, ist noch nicht ausgemacht.
Der nette Rechtsradikale von nebenan, so präsentiert sich Spitzenkandidat Jordan Bardella auf den Plakaten seines Rassemblement National (RN) oder auf Videos zum Beispiel bei TikTok und X. Er scheint von einem Werbeprofi auf Freundlichkeit trainiert worden zu sein.
Im Juni 2022 hat Marine Le Pen den damals 27-jährigen Sohn italienisch-algerischer Einwanderer*innen zu ihrem Nachfolger als Parteichef gemacht, um sich selbst voll und ganz auf die französische Präsidentschaft konzentrieren zu können. Die harten Ansagen, etwa das „französische Volk befinde(t) sich in Lebensgefahr und ist von einem Bevölkerungs-austausch bedroht“, überlässt sie seitdem dem smarten Jungmann. Er ist „ihr Geschöpf“.
Klarer Vorsprung für rechtsextreme Parteien
Zuvor war Bardella Anführer der RN-Liste im Europawahlkampf 2019 gewesen und hatte die Partei mit 23,3 Prozent zur stärksten französischen Kraft gemacht. Auch aus der Wahl 2024 wird der RN in Frankreich mit Sicherheit und – noch bitterer – mit großem Abstand als stärkste Gruppe hervorgehen.
Die Prognosen gehen derzeit von 28 Prozent aus – rund das Doppelte dessen, was der Partei von Staatspräsident Macron vorausgesagt wird. Damit ist das Gesamtpotential der französischen Rechtsradikalen noch nicht einmal ausgeschöpft. Wahrscheinlich kommen noch fünf bis sechs Prozent für die von Marion Maréchal (Le Pens Nichte) angeführte und noch radikalere Liste Réquonquete dazu.
Inhaltlich schillert Bardella zwischen unterschiedlichen Positionen des rechtsradikalen Lagers. Er unterstützt vehement die rassistische Verschwörungstheorie vom „großen Bevölkerungsaustausch“ und bestreitet, dass der Gründervater der Bewegung, Jean-Marie Le Pen, Antisemit sei.
Er vertritt einerseits, der menschengemachte Klimawandel gehöre zu den zentralen Problemen der Zeit, setzt sich aber gleichzeitig gegen Windkraft und vor allem gegen den Green Deal der EU ein, den er als ökologische, antifranzösische Zwangsmaßnahme aus Brüssel bezeichnet. Im EU-Parlament erklärt er persönlich, Putin führe in der Ukraine einen Krieg gegen den Westen, lässt aber seine gesamte Fraktion einhellig gegen Russland-Sanktionen und gegen die Ukraine-Hilfen der EU votieren.
Große innenpolitische Bedeutung des Europa-Wahlergebnisses
Bardella würde alles vertreten, dem er eine Mehrheit in Frankreich zutraut. Die EU ist für ihn lediglich Sprungbrett nach Paris, wie seine ausgesprochen mangelhafte Präsenz im Parlament ebenso belegt wie die nicht vorhandenen Gesetzes-Initiativen seiner Fraktion.
Neben allen europäischen Auswirkungen hat das Wahlergebnis des RN große innenpolitische Bedeutung für Frankreich. Le Pen will sich als die zentrale politische Kraft präsentieren und gleichzeitig Macron als abgewirtschaftet.
Liegt das Ergebnis bei der Europawahl unter einem Viertel aller abgegebenen Stimmen, käme das einer Niederlage gleich und Bardella wäre geschwächt. Ein Ergebnis über 30 Prozent – auch das ist möglich – machten ihn andersherum bei aller Loyalität zu Marine Le Pen automatisch zu ihrem Rivalen.
Macrons Spitzenkandidatin für die Landwirt*innen
Valérie Hayer heißt die weitgehend unbekannte Spitzenkandidatin von Macrons Liberalen Renew. Die 37-jährige Nordfranzösin aus Mayenne übernahm die Aufgabe von Stéphane Séjourné, weil der im Januar überraschend zum französischen Außenminister ernannt wurde.
Macron hat, so die einhellige Vermutung in der französischen Presse, die Bauerntochter Hayer ausgewählt, nachdem er auf der bedeutenden jährlichen Landwirtschaftsmesse in Paris verbal und auch physisch attackiert worden war.
Denn Hayers Spitzenkandidatur dient erkennbar in erster Linie dazu, die französischen Landwirt*innen zu beruhigen, die sich über unfairen internationalen Wettbewerb, übermäßigen Verwaltungsaufwand und steigende Produktionskosten beklagen. Die Wurzel allen Übels sehen die Bauern in Brüssel, angestachelt durch den RN.
Aber auch Macron findet das innenpolitische Signal, eine Bauerntochter nach Brüssel zu schicken, um dort für die Interessen der nationalen Landwirtschaft zu kämpfen wichtiger als eine gemeinsame europapolitische Perspektiventwicklung.
Deutlich schwächeres Wahlergebnis als 2019 erwartet
Scheinbar zumindest. Praktisch belegt das Signal nur ganz augenfällig, wie wenig wichtig die Benennung der europäischen Spitzenkandidaten unterdessen ist – anders als zu Zeiten des Duells von Martin Schulz gegen Jean-Claude Juncker.
Der Rat, also das Gremium der Regierungs-Chef*innen der 27 EU-Staaten, bestimmt, wer Präsident*in der Kommission wird. Dass Ursula von der Leyen wohl eine zweite Amtsperiode bevorsteht hat wenig mit den Wahlen und so gut wir gar nichts mit ihrer Spitzenkandidatur für die EVP zu tun. Macrons Stimme zählt und die seiner Amtskolleg*innen.
Valérie Hayer wird jedenfalls das Ergebnis von 2019 nicht verteidigen oder gar ausbauen können. 22,4 Prozent zu erreichen ist mehr als nur illusorisch, 15 Prozent werden ihr bestenfalls zugetraut, mithin die Hälfte der Stimmen des RN.
Die EVP driftet weiter nach rechts
Nicht nur angesichts dieser Schwäche des liberalen Lagers gibt es in der konservativen EVP starke Ambitionen, Giorgia Melonis Fratelli d’Italia aus der EKR herauszuholen und in die EVP zu integrieren. Manfred Weber und von der Leyen haben ihre Offenheit für ein solches Bündnis bereits bekundet, das gerade die französischen Républicains unter Parteichef Éric Ciotti und seinem Brüsseler Statthalter Francois-Xavier Bellamy betreiben. Die beiden treiben die an sich bürgerlich-konservative Partei immer weiter nach Rechts. Nur so versprechen sie sich Chancen gegen Macron und Le Pen.
Die SPE hat den Gedankenspielen, Mehrheiten rechts der Mitte zu suchen eine dankenswert klare Abfuhr erteilt. Man werde nicht über Programme einer demokratischen Mehrheit verhandeln, wenn EU-Rechte und Europafeinde mit am Tisch säßen, erklärte Generalsekretär Giacomo Filibeck.
Hoffnung auf einen Neuanfang bei der PS
Und damit zu Raphaël Glucksmann, dem Spitzenmann der französischen Sozialist*innen. Dem Journalisten, der schon 2019 Spitzenkandidat einer PS-Bündnisliste war, wird zugetraut das enorm schlechte damalige Ergebnis (6,2 Prozent) nun wieder deutlich zu verbessern.
Zweistelligkeit ist das durchaus erreichbare Ziel. Das wäre gut und wichtig für die SPE-Fraktion, aber auch hier gilt: Die innenpolitische Bedeutung wäre noch größer. Glucksmann würde dann Manon Aubry von La France Insoumis klar hinter sich lassen, und damit einen zentralen Beitrag leisten, die PS endgültig aus der Unterordnung unter Jean Luc Mélenchons linksradikale Truppe zu lösen.
Glucksmann könnte deutlich besser abschneiden als Marie Toussaint mit den Grünen Écoló, was dem arg angeknacksten Ego der Sozialist*innen ebenfalls gut tun dürfte. Glucksmanns persönlichen Beliebtheitswerte sind ziemlich gut und die der meisten seiner Konkurrent*innen (abgesehen von Bardella) eher weniger. „Gegen“ den Sohn des bekannten Philosophen André Glucksmann spricht lediglich, dass ihm als Intellektuellen jegliche Form von „Stallgeruch“ komplett abgeht. Aber vielleicht ist das für die Neuformierung der PS auch gar nicht mehr von Belang.