Rente mit 70: Darum geht es in der Debatte um längere Lebensarbeitszeit
Aus Sicht von CDU-Politiker*innen arbeiten die Menschen in Deutschland zu wenig. Nun sorgt Wirtschaftsministerin Katherina Reiche für Furore mit ihrem Vorschlag, das Renteneintrittsalter anzuheben. Die Reaktionen sind deutlich, auch aus den eigenen Reihen.
IMAGO/Herrmann Agenturfotografie
Die Wirtschaftsministerin will Menschen in Deutschland länger arbeiten lassen.
Die Union fordert eine längere Lebensarbeitszeit für Menschen in Deutschland. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) sagte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ : „Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen.“ Menschen in Deutschland sollten nicht mehr nur zwei Drittel ihres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen. „Wir müssen mehr und länger arbeiten“, sagte Reiche. Notfalls müsse man das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anheben.
Auch Bundeskanzler Friedrich Merz hat mehrfach gefordert, die Menschen in Deutschland müssten wieder mehr arbeiten, und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte, Rentner*innen würden zu wenig arbeiten.
Wie begründet Reiche ihre Position?
Fakt ist: Die Rentenversicherung kommt an ihre Belastungsgrenze, da immer weniger junge Menschen für immer mehr alte Menschen einzahlen. Schon vor vielen Jahren wurde deswegen die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beschlossen. Die schwarz-rote Koalition will eine Kommission einsetzen, um Reformpläne des Rentensystems zu erörtern. Als ersten Schritt plant sie, das Rentenniveau bis 2031 auf 48 Prozent zu stabilisieren.
Reiche findet, das ist nicht genug. Stattdessen soll Arbeiten in Deutschland wieder attraktiver werden. „Die Kombination aus Lohnnebenkosten, Steuern und Abgaben macht den Faktor Arbeit in Deutschland auf Dauer nicht mehr wettbewerbsfähig“, sagte sie. Die Wirtschaftsministerin argumentiert mit der Stundenarbeitszahl von deutschen Unternehmen. Beschäftigte würden an US-Standorten 1800 Stunden pro Jahr arbeiten, in Deutschland aber nur 1340 Stunden. „Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen im Durchschnitt wenig“, kritisierte sie.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger gibt ihr Recht: „Deutschland muss wieder mehr arbeiten, damit unser Wohlstand auch morgen noch Bestand hat“, mahnte er.
Welche Kritik gibt es?
Reiche wird aus den eigenen Reihen vom Sozialflügel der CDU, der Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA), kritisiert. CDA-Bundesvize Christian Bäumler sagte, Reiches Forderungen hätten keine Grundlage, die niedrige durchschnittliche Arbeitszeit im Jahr komme durch eine hohe Teilzeitquote zustande und nicht durch zu wenig Bereitschaft. „Wer als Wirtschaftsministerin nicht realisiert, dass Deutschland eine hohe Teilzeitquote und damit eine niedrige durchschnittliche Jahresarbeitszeit hat, ist eine Fehlbesetzung“, sagte er.
Kritik gibt es auch von den Gewerkschaften. Der DGB warnte vor einer „Rentenkürzung durch die Hintertür“. Und die Bundesregierung ließ klarstellen, dass sie keine Anhebung des Renteneintrittsalters plane. Der stellvertretende Regierungssprecher Hille verwies stattdessen auf die Pläne zur Aktivrente.
Was steht im Koalitionsvertrag?
Mit der Aktivrente greift Schwarz-Rot im Koalitionsvertrag zwar den Gedanken der Bundeswirtschaftsministerin auf, dass Menschen in Deutschland auch über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten sollten, setzt aber auf Freiwilligkeit. Vorgesehen ist, dass Rentner*innen bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei bekommen, wenn sie das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht haben und freiwillig weiterarbeiten.
Schwarz-Rot will außerdem eine „Frühstart-Rente“ einführen: Der Staat soll für jedes Kind vom sechsten bis 18. Lebensjahr in ein Depot einzahlen, das später eigenständig weiter befüllt werden kann. Bis zum Renteneintritt sollen die Erträge aus dem Depot steuerfrei sein.
Was sagt die SPD zur Debatte?
SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf sprach sich klar dagegen aus, Menschen in Deutschland zum längeren Arbeiten zu verpflichten. „Wenn wir jetzt das Renteneintrittsalter auf gesetzlicher Ebene weiter erhöhen würden, dann würde es nichts anderes bedeuten als eine Rentenkürzung. Und das ist etwas, was mit uns nicht zu machen ist", sagte er in der ntv-Sendung Frühstart. Die SPD schlägt stattdessen vor, die Gruppe derjenigen zu vergrößern, die in die Rentenkasse einzahlt. „Es geht für uns darum, die Zahl der Einzahlenden zu erhöhen, indem Frauen zum Beispiel in die Lage versetzt werden, mehr zu arbeiten, wenn sie denn wollen“, sagte Klüssendorf.
Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sebastian Roloff, nannte Reiches Argumentation stark verkürzt. Statt durch längeres Arbeiten müsse Deutschland den Fachkräftemangel durch Einwanderung decken. SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt kritisierte die von Reiche eingebrachten Zahlen. Gegenüber den Funke-Zeitungen sagte sie, tatsächlich sei das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen seit Mitte der 2000er Jahre deutlich angestiegen. „Es arbeiten mehr Menschen, davon insbesondere viele Frauen, in Teilzeit.“
Schon jetzt lohne es sich für alle, die wollen, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. „Die, die es nicht können, gilt es zu schützen“, betonte Schmidt. Vor allem Menschen mit höherem Einkommen hätten eine höhere Lebenserwartung, während Menschen mit niedrigerem Einkommen durch ein späteres Renteneintrittsalter benachteiligt würden. „Es träfe hier wieder einmal die Falschen.“
Henning Homann, Vorsitzender der SPD Sachsen, nannte die Vorschläge „unsozial, wirtschaftspolitisch kurzsichtig und aus ostdeutscher Perspektive realitätsfremd“. Viele würden körperlich hart arbeiten. „Den Menschen zu sagen, sie sollen bis 70 arbeiten, obwohl sie schon mit 60 gesundheitlich am Limit sind, ist realitätsfern. Am Ende zwingt die Gesundheit diese Menschen früher in Rente“, erklärte Homann. Insbesondere für Ostdeutschland seien Reiches Forderungen Gift. Dort liege die Altersarmutsquote bereits bei fast 25 Prozent. Würde das Renteneintrittsalter steigen, wäre das „ein Konjunkturprogramm für noch mehr Altersarmut in Ostdeutschland“.