Debatte

Neuer Höchststand: Antimuslimischer Rassismus wird immer brutaler

Das Netzwerk Claim hat für das vergangene Jahr mehr als 3.000 antimuslimische Vorfälle erfasst. Gewaltdelikte sind demzufolge enthemmter als zuvor – und richten sich vor allem gegen eine Gruppe.

von Lea Hensen · 17. Juni 2025
Antimuslimischer Rassismus nimmt Meldestellen zufolge in Deutschland stark zu.
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Sie habe lange überlegt, die Fälle laut vorzulesen, sagt Güzin Ceyhan vom Netzwerk Claim. „Aber ehrlich gesagt, ich kann es nicht. Es fällt mir sehr schwer, diese Gewalt laut auszusprechen.“ Die Rede ist von Übergriffen auf Muslime, oder Menschen, die für Muslime gehalten werden. Das Netzwerk hat am Dienstag eine Jahresbilanz zu Fällen von antimuslimischem Rassismus vorgestellt, die 2024 bei bundesweiten Meldestellen eingingen. „Antimuslimischer Rassismus kann lebensbedrohlich sein“, fasst Ceyhan zusammen.

Antimuslimische Vorfälle: In zwei Jahren verdreifacht

Vorfälle von antimuslimischen Angriffen und Diskriminierungen haben demzufolge im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht und sind um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Insgesamt macht die Bilanz mehr als 3.000 Übergriffe oberhalb und unterhalb der Strafbarkeitsgrenze aus, 2023 waren es noch knapp 2.000. Im Zeitraum von zwei Jahren hätten sich die Fälle mehr als verdreifacht. Weil gleichzeitig auch mehr Meldestellen hinzukamen, sind die Zahlen nicht unbedingt vergleichbar. Allerdings decken sie sich mit anderen Auswertungen wie der Statistik politisch motivierter Kriminalität.

Die Vorfälle seien brutaler und enthemmter, erkärt Ceyha. So wurden 2024 erstmals zwei Menschen getötet und mit fast 200 deutlich mehr verletzt. Einer der Toten war der 24-jährige Hassan T., der im Februar 2024 in Gummersbach erstochen wurde. Der Täter ist wegen Mordes angeklagt, er hatte seine Tat angekündigt. Bei einem Brandanschlag in Solingen starb im März 2024 die vierköpfige Familie Zhilova. Die Ermittler schlossen Rassismus zunächst aus, Hinweise auf ein rechtsextremes Motiv mehrten sich später.

Zielscheibe vor allem Frauen

Gewaltfälle bilden unter den Vorfällen die drittgrößte Gruppe, die meisten der 2024 gemeldeten Angriffe waren verbal, gefolgt von Diskriminierungen. „Die Jahresbilanz 2024 zeigt, dass antimuslimischer Rassismus in Deutschland in allen gesellschaftlichen Bereichen weit verbreitet und für viele Menschen in Deutschland Alltag ist“, schreiben die Autor*innen. Dabei betreffen mehr als zwei Drittel der Anfeindungen und Übergriffe in allen Bereichen Frauen. Claim geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Viele betroffene Muslim*innen hätten ein großes Misstrauen gegenüber Behörden und würden Vorfälle nicht melden.

Rima Hanano, Co-Geschäftsführerin von Claim, warnt von einer „neuen Eskalationsstufe“. „Frauen mit Kopftuch werden bespuckt. Kinder werden auf dem Schulweg beschimpft. Moscheen werden mit Hakenkreuzen beschmiert. Menschen verlieren Wohnungen, Jobs, Sicherheit, Würde.“ 70 Fälle richteten sich gegen Moscheen oder andere religiöse Einrichtungen. In Nordrhein-Westfalen erhielten Moscheen Hassbotschaften über Essenslieferungen von Lieferando. Dabei bestellten Unbekannte im Namen der Moscheen Essen und hinterließen als Anmerkung rassistische Parolen wie „Dönermord wird Volkssport!“. Die Anmerkungen werden automatisch auf den Kassenzettel gedruckt – die Bezeichnung „Dönermord“ erinnert an die Berichterstattung bestimmter Medien über die Morde der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU).

Jahresbilanz: Migrationsdebatten schüren Rassismus

Das Netzwerk sieht einen Zusammenhang mit jüngsten Debatten um Migration und Sicherheit. 2023 habe es einen starken Anstieg der Vorfälle nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel gegeben – ähnliches wurde auch über antisemitische Vorfälle berichtet. 2024 wiederum zeigten sich Höchstzahlen nach den mutmaßlich islamistischen Anschlägen in Mannheim (Mai) und in Solingen (August), die Debatten zu Folge gehabt hätten, die Muslime unter Generalverdacht stellten. „Dadurch fühlen sich die Menschen immer öfter im Recht, Dinge zu sagen, die vorher nicht sagbar waren“, sagt Hanano. An solchen Debatten seien auch demokratische Parteien beteiligt. 

Wie soll die Politik reagieren? Das Netzwerk fordert: Vorfälle müssen besser erfasst und antimuslimischer Rassismus einheitlich definiert werden. „Menschen brauchen außerdem spezialisierte Beratungsstellen und Unterstützung – flächendeckend in ganz Deutschland. Niemand darf mit seiner Erfahrung allein gelassen werden,“ so Hanano. Zivilgesellschaftliche Initiativen gegen antimuslimischen Rassismus müssten ausgebaut und gesichert werden, an Schulen, bei der Polizei und in der Justiz brauche es antirassistische Bildung. Im Bildungsbereich etwa würden die meisten Diskriminierungen von Lehrer*innen ausgehen. 

Die schwarz-rote Regierungskoalition hatte im Koalitionsvertrag angekündigt, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zu aktualisieren, um weitere Arten von Rassismus zu berücksichtigen. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge, Integration und Antirassismus, Natalie Pawlik (SPD), kommentierte die Jahresbilanz: „Gewalt, Ausgrenzung und Beleidigungen gegen Musliminnen und Muslime sind in Deutschland Alltag. Das dürfen wir nicht akzeptieren“, so Pawlik. „Wir müssen das ganze Ausmaß von antimuslimischem Rassismus benennen und deutlich dagegen vorgehen. Denn nur wenn antimuslimischer Rassismus für alle sichtbar ist, können wir ihn auf allen Ebenen gezielt zurückdrängen.“ Dabei sei jede und jeder Einzelne in der Gesellschaft gefragt. „Bei Vorfällen widersprechen, einschreiten und solidarisch sein!", lautet ihr Appell.

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Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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