Antisemitismus in Deutschland: Was er für die Betroffenen bedeutet
Mit knapp 4.800 Vorfällen haben sich 2023 die Angriffe auf jüdische Menschen in Deutschland fast verdoppelt. Ein Blick hinter die dramatischen Zahlen macht deutlich, was das für den Alltag der Betroffenen bedeutet.
IMAGO / Manuel Stefan
Antisemitismus ist in Deutschland längst Teil des Alltags vieler Jüdinnen und Juden.
Wie bekämpft man Antisemitismus? Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, antwortet auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Jahresberichts über antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023 am Dienstagmorgen, man müsse „dort ansetzen, wo der Alltag stattfindet“.
Der aktuelle Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) macht mehr als deutlich, worauf Botmann sich mit seiner Aussage bezieht: Antisemitismus ist in Deutschland im Alltag angekommen – an Schulen, Universitäten, im Supermarkt oder auf der Straße.
Entsprechend dramatisch ist das Bild, das im RIAS-Jahresbericht gezeichnet wird. Die Zahl der in 2023 erfassten antisemitischen Vorfälle ist demnach mit 4.782 um fast 83 Prozent höher als im Vorjahr. Damit ist ein neuer Rekordwert erreicht. Über die Hälfte der Vorfälle ereignete sich nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober – seitdem sei Antisemitismus in Deutschland mit rechnerisch 32 Vorfällen pro Tag „in allen gesellschaftlichen Bereichen auf eine bisher nicht bekannte Weise“ sichtbar geworden.
Individuelle Erfahrungen hinter der Statistik
Der RIAS-Jahresbericht macht die persönliche Komponente des Antisemitismus in Deutschland anhand vieler, erschreckender Beispiele deutlich. Denn während beispielsweise antisemitische Schmierereien, anonyme Drohbriefe oder Online-Zuschriften zwar einen erheblichen Anteil der Vorfälle darstellen, so existiert ein ebenso erheblicher Anteil an Betroffenen, die in direktem Kontakt mit ihren Mitmenschen antisemitische Äußerungen, Belästigung oder gar Übergriffe erfahren.
RIAS berichtet dabei unter anderem von einem Fall in Erfurt, wo ein Jugendlicher von einer Gruppe mit den Worten „Na du Jude“ begrüßt wurde und einem Fall im hessischen Hochheim am Main, wo ein Mann als Reaktion auf eine Bitte an seine Nachbarin mit den Worten „Verpiss dich, du dreckiger Jude“ beschimpft wurde.
Auch beschreibt der Jahresbericht verschiedene Vorfälle an Schulen und Hochschulen, wie einen Fall in Sachsen, wo ein Schüler seine Lehrerin als „Drecksjude“ und „Frau Hitler“ beschimpfte und ihr anschließend drohte und sie verletzte. Oder einen Fall auf dem Gelände der Universität Oldenburg, wo ein Mann antisemitische Flyer verteilte, und als Reaktion auf eine Konfrontation „Zionisten sind Mörder“ rief.
Verstärkte Belastung seit dem 7. Oktober
Zahlreiche weitere antisemitische Vorfälle wie diese werden in dem Jahresbericht vorgestellt. Das alles seien Erfahrungen, die jüdische Menschen bereits seit vielen Jahren machen, heißt es in der Einleitung. Nach dem 7. Oktober, der als Zäsur für Jüdinnen und Juden weltweit gewertet wird, hätten sich diese Erfahrungen jedoch enorm verstärkt, sodass sie mittlerweile eine „täglich spürbare Belastung“ seien.
Das habe auch direkte Konsequenzen für das private Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Bestimmte Räume könnten sie nur noch mit Angst betreten, sodass sich viele aus dem öffentlichen Leben zurückzögen. Das persönliche Sicherheitsempfinden habe sich seit dem 7. Oktober verändert und das ständige Abwägen zwischen Sichtbarkeit und persönlicher Sicherheit verschärft.
Warnung vor einer Normalisierung
Sollte die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland weiterhin auf dem hohen Niveau von 2023 verharren, bestehe die Gefahr einer Normalisierung, warnt Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des RIAS-Bundesverbands. Aktuell sei bereits zu beobachten, dass die Gesellschaft überwiegend empathielos und unsolidarisch auf Antisemitismus reagiere.
Neben den notwendigen Fortbildungen im staatlichen Bereich und einer verbindlichen Antisemitismus-Definition zur Erleichterung juristischer Entscheidungsprozesse müsse also auch im gesellschaftlichen Alltag, beispielsweise bei der Medienkompetenz, angesetzt werden, erklärt Daniel Botmann. „Antisemitisch zu sein, ist in Deutschland nach wie vor zu einfach und zu günstig“, führt er aus – das müsse geändert werden.
Antisemitische Vorfälle können auf dem RIAS-Onlineportal gemeldet werden.
Betroffene antisemitischer Vorfälle können sich unter anderem an OFEK e.V. wenden.
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