Rente mit 70: So viel arbeiten die Deutschen wirklich
Wirtschaftsministerin Katherina Reiche behauptet, die Menschen in Deutschland müssten „mehr und länger arbeiten“ und notfalls sogar später in Rente gehen. Denn im internationalen Vergleich hinge Deutschland mit seiner Arbeitszeit zurück. Stimmt das? Ein Realitätscheck
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Arbeiten die Deutschen viel oder wenig? Ein Blick in die Statistik gibt Aufschluss.
„Wir müssen mehr und länger arbeiten.“ Mit dieser Forderung hat Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche vor wenigen Tagen für Aufregung gesorgt. Die CDU-Politikerin will, dass die Deutschen mehr Arbeitsstunden leisten, um die angespannten Sozialkassen zu entlasten. Notfalls sollte dafür das Rentenalter auf 70 Jahre erhöht werden. Der Vorstoß der CDU-Politikerin erntete umgehend Widerspruch, von der SPD, aber auch aus den eigenen Reihen. Was aber sagen die Zahlen? Hat die Wirtschaftsministerin mit ihrer Behauptung, die Deutschen würden zu wenig arbeiten, recht oder nicht?
Arbeiten die Menschen in Deutschland weniger als anderswo?
Laut Eurostat betrug die wöchentliche Arbeitszeit aller Erwerbstätigen in Deutschland 2024 im Schnitt 34,8 Stunden. Damit arbeiten die Deutschen tatsächlich weniger als im europäischen Vergleich (37,1 Stunden). Die Niederländer*innen arbeiten EU-weit mit 31,6 Stunden in der Woche am wenigsten.
Allerdings arbeiten in Deutschland insgesamt mehr Menschen als anderswo. Die Erwerbstätigenquote ist nach Daten der OECD mit 80,5 Prozent höher als der Durchschnitt der EU-Staaten. Er liegt bei 75,6 Prozent. Zudem arbeiten hierzulande besonders viele Menschen in Teilzeit. Mit einer Teilzeitquote von 29 Prozent liegt Deutschland im EU-Vergleich auf Platz drei. Nur in den Niederlanden und in Österreich arbeiten noch mehr Menschen in Teilzeit.
Teilzeit drückt die wöchentliche Arbeitszeit statistisch nach unten
Wenn insgesamt mehr Menschen arbeiten, aber auch mehr in Teilzeit, dann wird die wöchentliche Arbeitszeit statistisch nach unten gedrückt. Ein Blick auf die Geschlechterverteilung verrät, dahinter steckt nicht etwa Faulheit, sondern ein strukturelles Problem: Drei Viertel aller Teilzeitarbeitenden sind laut Arbeitskräfteerhebung Frauen (75,6 Prozent). Fast jede zweite erwerbstätige Frau (48 Prozent) arbeitet hierzulande in Teilzeit.
Dementsprechend hat SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf recht, wenn er der Bundeswirtschaftsministerin entgegnet: „Es geht für uns darum, die Zahl der Einzahlenden zu erhöhen, indem Frauen zum Beispiel in die Lage versetzt werden, mehr zu arbeiten, wenn sie denn wollen.“ Würde man die Frauen, die mehr arbeiten wollen, aber nicht können, weil sie Care-Arbeit und Kinderbetreuung übernehmen, in Vollzeitstellen bringen – dann würde sich die Finanzlage der Rentenkasse wahrscheinlich verbessern.
Ist das Renteneintrittsalter in Deutschland niedrig?
Reiche schlägt vor, das Renteneintrittsalter im Zweifel auf 70 Jahre zu erhöhen. Eine schrittweise Erhöhung wurde in Deutschland aber ohnehin schon vor Jahren beschlossen. Ab 2031 soll mit Eintritt des Geburtsjahrgangs 1964 in den Ruhestand ein Rentenalter von 67 Jahren gelten. Der aktuelle Jahrgang 1960 geht mit 66 Jahren und vier Monaten in Rente.
Insgesamt ist das Renteneintrittsalter in der EU sehr unterschiedlich. Im aktuellen OECD-Bericht lag Deutschland im Jahr 2022 (mit damals 65 Jahren und 11 Monaten) unter den europäischen Ländern im Mittelfeld. Das Renteneintrittsalter in Dänemark, Island und Norwegen (67 Jahren), den Niederlanden (66,6 Jahren), Großbritannien und Irland (66 Jahren) lag weiter oben.
Aber: Dänemark hat zuletzt sogar eine Erhöhung auf 70 Jahre bis 2040 beschlossen, auch in anderen EU-Ländern stehen Reformen an. In Deutschland soll die Altersgrenze von 67 Jahren vorerst bleiben.
Wann gehen die Menschen in Deutschland tatsächlich in Rente?
Abseits des regulären Rentenalters gibt es die Möglichkeit der vorzeitigen Rente. Die ist in Deutschland ab 63 Jahren möglich, wenn 35 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt wurde. Dann werden aber Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat fällig. Eine abschlagsfreie Rente ist mit 65 Jahren nach 45 Beitragsjahren möglich.
Laut OECD-Bericht gehen hierzulande recht viele Menschen früher in Rente: Demnach waren Männer 2022 bei ihrem Renteneintritt im Durchschnitt 63,7 Jahre, Frauen 63,4 Jahre alt – also zwei Jahre jünger, als sie damals hätten sein müssen. Die frühzeitige Rente scheint vor allem bei den Babyboomern beliebt: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) nutzte fast die Hälfte der Babyboomer der Jahrgänge 1954 bis 1957 diese Option. Dem Bericht zufolge sind es das allem Besserverdienende und Gutausgebildete.
Gehen die Deutschen früher in Rente als in anderen Ländern?
Nein, denn die OECD-Studie zeigt: In den meisten europäischen Ländern verabschieden sich die Menschen früher in den Ruhestand als in Deutschland. In Griechenland gehen die Menschen am frühesten in Rente: Dort liegt die gesetzliche Grenze mit 62 Jahren schon recht niedrig, doch tatsächlich gehen Frauen mit 58,1 Jahren und Männer mit 60,9 Jahren in den Ruhestand. In Frankreich gingen Männer im Schnitt mit 60,4 Jahren und Frauen mit 60,9 Jahren in Rente, obwohl sie eigentlich bis 64 Jahre arbeiten müssten. Anderswo arbeiten Rentner*innen freiwillig länger, weil es offenbar Anreize dazu gibt: In Schweden liegt das Renteeintrittsalter derzeit noch bei 65 Jahren, aber Männer gehen im Durchschnitt mit 65,8 Jahren in den Ruhestand.
Hat Ministerin Reiche recht – oder nicht?
Die Bundeswirtschaftsministerin hat Unrecht, wenn sie behauptet, in Deutschland würden die Menschen weniger Stunden und weniger Jahren arbeiten. Denn tatsächlich bemessen sich Arbeitszeiten und Renteneintritt international nach sehr unterschiedlichen Maßstäben – und nicht zuletzt gibt es in Deutschland strukturelle Probleme, die Menschen am Arbeiten hindern.
Reiche ist nicht die erste CDU-Politikerin, die solche umstrittenen Behauptungen aufstellt. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz hat mehrfach angedeutet, die Deutschen würden zu wenig arbeiten. „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können“, sagte der Unions-Chef beim CDU-Wirtschaftstag im Mai. Ein Faktencheck zeigt, dass auch er falsch lag.