Inland

Debatte um Richterwahl: So funktioniert das Bundesverfassungsgericht

Mit der gescheiterten Richter*innenwahl rückt die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in den Fokus. Welche Aufgaben hat das Gericht, wie setzt es sich zusammen? Wir geben die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

von Lea Hensen · 23. Juli 2025
16 Richterinnen und Richter legen am Bundesverfassungsgerich das Grundgesetz aus.

16 Richterinnen und Richter legen am Bundesverfassungsgerich das Grundgesetz aus.

Für viele ist es eine Art Orakel von Delphi: Das Bundesverfassungsgericht hat in Deutschland eine besondere Rolle, indem es mit seinen Entscheidungen zu Grundsatzfragen die Politik in diesem Land in eine Richtung lenkt. In seinen Urteilen spiegelt sich oft der Wandel der Gesellschaft: 1957 billigte das Gericht noch die Verfolgung Homosexueller, 2002 machte es schließlich den Weg frei für die „eingetragene Lebenspartnerschaft“. 

Um die Funktion des Gerichts geht es im Kern auch, wenn CDU/CSU und SPD über die Kandidatin für das Richteramt Frauke Brosius-Gersdorf streiten. Welche Aufgaben hat das Bundesverfassungsgericht, wie setzt es sich zusammen? Wir erklären das Wichtigste rund um das höchste Gericht in Deutschland.   

Für was ist das Bundesverfassungsgericht zuständig?

Das Bundesverfassungsgericht ist das höchste deutsche Gericht für Verfassungsfragen. Es wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und entscheidet bei Streitigkeiten zwischen Bundesorganen wie Bundestag oder Bundesrat, bei Bund-Länder-Streits oder bei Verbotsverfahren gegen Parteien. Bundesregierung, Landesregierungen und Bundestagsfraktionen, die über ein Viertel der Mitglieder des Bundestages verfügen, können beantragen, dass Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Ausschließlich Bürger*innen können Verfassungsbeschwerden einreichen, wenn sie sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft auch, ob das Wahlrecht beachtet wurde.

Das Bundesverfassungsgericht ist innerhalb Deutschlands die letzte Instanz für verfassungsrechtliche Klärungen. Alle anderen Gerichte sind ihm untergeordnet, auf Landesebene wachen die Landesverfassungsgerichte über die jeweilige Landesverfassung.  

Wie politisch ist das Bundesverfassungsgericht?

Das Bundesverfassungsgericht ist kein politisches Organ, seine Entscheidungen geben aber den Rahmen für politisches Handeln vor. Die Verfassungsrichter*innen sind nach ihrer Wahl zu politischer Unabhängigkeit verpflichtet. Eine parteipolitisch ausgewogene Besetzung sorgt dafür, dass sich politische Strömungen gegenseitig ausgleichen – das soll die Legitimation der Rechtsprechung stärken. 

Aufgabe der Verfassungsrichter*innen ist es zu überwachen, ob der Staat das Grundgesetz und die Grundrechte einhält. Dafür müssen die Richter*innen das Grundgesetz auslegen, denn dessen Normen sind oft offen formuliert. Dabei orientieren sich an der Verfassung, aber auch an den Wertevorstellungen der aktuellen Gesellschaft, die sich mit der Zeit wandeln. Deswegen können sie zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Verfahren zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind grundsätzlich nicht anfechtbar. Alle anderen Gerichte und staatliche Stellen sind an seine Entscheidungen gebunden.

Wie ist das Gericht aufgebaut?

Das Gericht besteht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richter*innenDer Erste Senat befasst sich überwiegend mit Grundrechten, der Zweite mit Staatsorganisationsrecht. Allerdings weichen diese Zuständigkeiten regelmäßig ab, weil der Erste Senat durch seine Zuständigkeit für Verfassungsbeschwerden grundsätzlich stärker belastet ist. Für jedes Verfahren übernimmt ein Richter oder eine Richterin die Berichterstattung. 

Der Präsident ist derzeit Vorsitzender des Ersten Senats, die Vizepräsidentin ist Vorsitzende des Zweiten Senats. Der derzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts heißt Stephan Harbarth. Insgesamt sind rund 270 Personen am Gericht beschäftigt.

Wer wählt die Verfassungsrichter*innen?

Pro Senat werden jeweils vier Richter*innen vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt, die abwechselnd auch den Präsidenten und den Vizepräsidenten bestimmen. Für jede Wahl ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig, was die Parteien zu parteiübergreifenden Absprachen zwingt, und dadurch zu gegenseitigen Zugeständnissen für ihre Kandidat*innen. Die Absprachen werden in der Regel im Hintergrund getroffen, damit die Abstimmung im Bundestag und Bundesrat gesichert ist. Früher wählte ein Wahlausschuss die Richter*innen, aber das Bundesverfassungsgericht entschied 2014, dass dies nicht verfassungskonform sei.

Wer kann Verfassungsrichter*in werden?

Alle Richter*innen müssen das zweite juristische Staatsexamen abgelegt haben und mindestens 40 Jahre alt sein. Pro Senat müssen drei Richter*innen vorher an einem obersten Bundesgericht gewesen sein (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitsgericht und Bundessozialgericht), damit ihre Erfahrungen von dort in die Rechtsprechung einfließen. Die übrigen Richter*innen kommen in der Regel aus Wissenschaft oder Verwaltung.

Seit wann gibt es das Bundesverfassungsgericht und wie hat es sich verändert?

Das Bundesverfassungsgericht besteht seit 1951, es wurde in der alten Bundesrepublik nach Karlsruhe gelegt, weil sich dort bereits der Bundesgerichtshof befand. Um die Unabhängigkeit der Justiz zu unterstreichen, sollte es räumlich vom Regierungssitz in Bonn getrennt sein. In seinen Anfangsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg prägte das Gericht das Verständnis der Grundrechte in der Bundesrepublik entscheidend mit. Zum Beispiel legte es den Gleichheitssatz zwischen Männern und Frauen für die politische Praxis aus, die in den 1950ern schließlich fast nur von Männern bestimmt war. Bis dato hatte etwa der Mann grundsätzlich das letzte Wort in Erziehungsfragen - 1959 kippte das Gericht diesen „Stichentscheid“ des Vaters.

Später befasste sich das Gericht zunehmend mit den großen gesellschaftlichen Fragen. Beim Abtreibungsrecht drückte Karlsruhe auf die Bremse: Als die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt Abtreibungen in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft legalisieren wollte, entschieden sich die Richter*innen für den Vorrang der Schutzpflicht des Staates für das ungeborene Leben. 1993 bekräftigte das Gericht, dass Abtreibungen grundsätzlich rechtswidrig seien, mit dem Zusatz, dass sie straffrei bleiben können, wenn Fristenregelung und Beratungspflicht eingehalten werden. 

Revolutionär war auch die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht in 1993. Mehrere Bürger*innen hatten Verfassungsschwerde eingereicht, da sie befürchteten, dass Deutschland seine Souveränität an die neu gegründete EU abgebe. Die Richter*innen erklärten den Vertrag von Maastricht für rechtmäßig, gestanden aber jedem Menschen in Deutschland zu, in Karlsruhe überprüfen zu lassen, ob Vertragsergänzung mit den Grundlagen des Grundgesetzes vereinbar seien. Die Entscheidung stärkte also die Rolle des deutschen Grundgesetzes im europäischen Integrationsprozess der EU.

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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