Bluttat von Aschaffenburg: Diese Konsequenzen fordert der Oberbürgermeister
Die Messerattacke von Aschaffenburg hat zwei Menschen das Leben gekostet. Oberbürgermeister Jürgen Herzing (SPD) warnt vor schrillen Tönen in der Migrationsdebatte. Zugleich fordert er Veränderungen im Umgang mit Geflüchteten ohne Bleiberecht.
imago/Eibner
Aschaffenburg steht unter Schock: Oberbürgermeister Jürgen Herzing bei einem Statement nach der Kranzniederlegung am Donnerstag.
Welche Stimmung in der Stadt nehmen Sie nach dem Messerangriff vom Mittwoch wahr?
Am Donnerstag haben sich mehr als 3.000 Menschen schweigend am Tatort versammelt. Dieses Mitgefühl der Stadtgesellschaft macht mich stolz. Am Tatort haben wir als Stadtverwaltung am gleichen Tag einen Kranz niedergelegt, damit die Menschen einen Ort zum gemeinsamen Trauern haben. Jeder hat das Gefühl, er muss irgendwas tun. Das geht uns in der Verwaltung genauso. Ich habe mit dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler telefoniert, beide habe uns Unterstützung zugesagt.
Wie geht es den Familien der beiden Todesopfer? Haben Sie sie getroffen?
Wir haben hier eine sehr gute Psychosoziale Notfallversorgung. Die Kollegen werden unterstützt von Maltesern, Feuerwehr und Kirche. Ein Treffen mit den Hinterbliebenen gab es noch nicht, das wird jetzt in aller Ruhe organisiert, die Familien wünschen sich eine Begegnung. Womöglich besuche ich sie zu Hause, vermutlich in der nächsten Woche, also nach der Gedenkfeier am Sonntag.
Wie gehen Sie persönlich mit der Tat um?
Ich bin sehr erfahren, was solche Dinge angeht. Seit 50 Jahren bin ich freiwilliger Feuerwehrmann. 26 Jahre lang war ich als Berufsfeuerwehrmann und Einsatzleiter in Frankfurt am Main tätig und war bei Rettungseinsätzen dabei. Während dieser Zeit habe ich viele schlimme Dinge erlebt. Trotzdem hat mich die Gewalttat vom Mittwoch so berührt, dass es mich fast aus der Bahn geworfen hätte. So geht es vielen. Viele wissen im Moment nicht, was sie tun sollen. Die Trauerarbeit steht erst am Anfang.
Was bedeuten die Tat und die Debatte darüber für das Zusammenleben in Aschaffenburg?
Wir haben eine sehr offene Kultur in unserer Stadt. Menschen aus gut 150 Nationen leben friedlich zusammen. Dieser Friede wurde nun durch einen Flüchtling gestört. Die Stadtgesellschaft steht zusammen, doch viele, auch aus dem bürgerlichen Lager, fragen sich: Wie soll es weitergehen?
Das zuständige bayerische Innenministerium sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, dass der mutmaßliche Täter noch immer in Deutschland ist, obwohl er sein Asylverfahren abgebrochen hat. Wie bedeutsam ist dieser Aspekt in der öffentlichen Debatte vor Ort?
Im Moment ist das hier noch kein großes Thema. Das wird wohl erst nächste Woche stärker ins Bewusstsein treten. Gegenwärtig überwiegt die Trauer angesichts dieser schrecklichen Tat. Es gibt die üblichen Gruppen aus der rechten Ecke, die gesagt haben, sie hätten schon immer gewusst, dass das Asylsystem nicht funktioniert und wir selbst schuld seien.
Jürgen Herzing
Die demokratischen Parteien müssen jetzt zusammenhalten und vernünftige Dinge auf den Weg bringen.
Inwiefern hat Bayerns Innenministerium versagt?
Nicht nur in Bayern erleben wir immer wieder dasselbe Schema: Menschen, die in Deutschland kein Bleiberecht haben, gehen sozusagen verloren. Auf Bundes- und Landesebene werden Fehler gemacht. Beide Seiten sollten eng zusammenarbeiten und sich auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Wenn sie das nicht schaffen, werden wir spätestens in einem halben Jahr über die nächste fürchterliche Tat reden. Ich möchte so etwas in meinem Verantwortungsbereich kein weiteres Mal erleben.
Der Tatverdächtige ist schon vorher durch Gewalttaten aufgefallen und offensichtlich psychisch krank. Was muss sich im Umgang mit Zugewanderten, die solche Merkmale aufweisen, ändern?
Nur bei einem kleinen Teil dieser Menschen kommt es zu solchen Attentaten. Dennoch: Bund und Länder müssen Regelungen finden, damit wir diese gefährlichen Leute quasi nicht mehr frei herumlaufen lassen. In den Kommunen wissen wir um ihre Gefährlichkeit, haben aber keine Möglichkeit, sie an die Kandare zu legen. Ich habe diese Punkte unter anderem gegenüber Innenministerin Nancy Faeser und dem SPD-Bundestagsabgeordneten Bernd Rützel deutlich gemacht. Auch gegenüber dem Deutschen Städtetag werde ich das thematisieren.
Die Messerattacke von Aschaffenburg folgt auf eine Reihe von Gewalttaten ähnlichen Musters wie in Magdeburg und Solingen. Wie groß ist die Gefahr, dass die öffentliche Debatte über Migration abdriftet?
Diese Gefahr ist sehr groß. Man muss sich immer wieder vor Augen führen: Die Probleme, um die es geht, betreffen nicht die Masse der Flüchtlinge, sondern nur einen geringen Teil. Die demokratischen Parteien müssen jetzt zusammenhalten und vernünftige Dinge auf den Weg bringen. Es muss Möglichkeiten geben, sich vor solchen Tätern besser zu schützen. Olaf Scholz hat erwähnt, er sei es leid, jedes halbe Jahr solche Situationen zu erleben. Die SPD sollte sagen, welche Veränderungen sie anpeilt.
Macht sich eine Veränderung im Bundestagswahlkampf bemerkbar?
Vermutlich schon. Die Stadtverwaltung wird mit Zuschriften bombardiert, etwa mit dem Tenor: Habt ihr jetzt endlich genug davon, dass alle Flüchtlinge zu uns kommen dürfen? Es gibt aber noch viel krassere, auch an mich persönlich gerichtete Aussagen. Der Ton wird rauer.
Jürgen Herzing (SPD) ist seit Mai 2020 Oberbürgermeister von Aschaffenburg.