Inland

Bedingt abwehrbereit: Warum auch der Zivilschutz eine Zeitenwende braucht

Die Gefahren nehmen zu, nicht nur wegen möglicher kriegerischer Auseinandersetzungen. Darauf muss sich nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft vorbereiten. Das gilt besonders für den Zivil- und Katastrophenschutz.

von Kai Doering · 16. Mai 2024
Feuerwehr probt Reaktion auf Chemieunfall

Üben für den Ernstfall: Im bayerischen Schwabmünchen trainiert die Feuerwehr ihre Reaktion auf einen Chemieunfall.

Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, worauf es im Ernstfall ankommt, muss in den Untergrund gehen. 

Unweit des U-Bahnhofs Pankstraße befindet sich mehrere Meter unter der Erde die viertgrößte Zivilschutzanlage Berlins. Im Falle eines atomaren Angriffs hätte sie – über riesige Stahlbetontore hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen – 3.300 Menschen für mehrere Wochen Schutz bieten sollen. Die Anlage verfügt über ein unterirdisches Wasserwerk, um die Trinkwasserversorgung sicherzustellen. Ein 465 PS starkes Diesel-Notstromaggregat hätte die Versorgung mit Energie übernommen. 

„Erschreckend aktuelle" Tour durch den Bunker

1977 wurde die Anlage in Betrieb genommen. Im Jahr zuvor hatte die Sowjetunion damit begonnen, mobile Raketensysteme vom Typ SS-20 gegen die Staaten der NATO in Stellung zu bringen. Seit 2010 steht die immer noch voll ausgestattete Anlage unter Denkmalschutz und kann im Rahmen von Führungen besichtigt werden.

„Aufgrund der Ereignisse in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 hat diese Tour leider erschreckend an Aktualität gewonnen“, sagt der Verein „Berliner Unterwelten“, der die Anlage unterhält und die Führungen anbietet. 

Proben für den Ernstfall

Wenn es darauf ankommt, müssen alle wissen, was zu tun ist: Interkommunale Großübung der Feuerwehr mit Einsatzkräften aus Bochum und Herne.

Katastrophenschutzübung im Ruhrgebiet

Mit dem russischen Angriff ist die Notfall-Infrastruktur in Deutschland wieder in den Mittelpunkt gerückt. Damit endet eine Entwicklung, die nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Wiedervereinigung einsetzte. Schutzräume wurden geschlossen und verkauft, die Sirenenwarnnetze aus dem Osten und dem Westen wurden von der Bundesregierung an die Kommunen übergeben. Sie konnten selbst entscheiden, ob sie die Sirenen behalten oder abschaffen. Die meisten entschieden sich fürs Abschaffen.

„Es war ein Fehler, dass in der Vergangenheit dort so viel abgebaut wurde“, räumt heute Bundesinnenministerin Nancy Faeser ein. Mit einem Sirenenförderprogramm hat der Bund deshalb schon vor dem russischen Angriff den Wieder-Ausbau kommunaler Sirenennetze unterstützt.

Der Klimawandel verschärft die Lage

Sie sollen nicht nur vor kriegerischen Angriffen warnen, sondern auch vor Naturkatastrophen. Eine Mahnung ist hier das Hochwasser im Ahrtal im Sommer 2021, bei dem mindestens 135 Menschen ums Leben kamen. Viele, weil sie nicht rechtzeitig gewarnt wurden. 

Der Klimawandel werde dazu beitragen, „dass es häufiger solche Großschadensereignisse gibt“, ist Faeser überzeugt. Umso wichtiger seien deshalb ein Bewusstsein in der Bevölkerung und das Wissen, was im Gefahrenfall zu tun sei. Ab diesem Jahr gibt es deshalb bundesweit einen „Bevölkerungsschutztag“. 

Einen Vorgeschmack darauf gab es im vergangenen Jahr in Potsdam: Am 24. Juni heulten um 13 Uhr in der brandenburgischen Landeshauptstadt die Sirenen. Auf den Handys im Stadtgebiet ging eine Probewarnung ein. In der Innenstadt stellten Feuerwehr, Polizei, Bundeswehr, das Technische Hilfswerk und andere Hilfsorganisationen ihre Arbeit vor und erklärten, was im Katastrophenfall zu tun ist.

Der Bevölkerungsschutztag ist ein Baustein der Resilienzstrategie, die die Bundesregierung im Juli 2022 beschlossen hat. Weitere Maßnahmen sind die Einrichtung eines Gemeinsamen Kompetenzzentrums Bevölkerungsschutz, die Einführung eines Handy-Warnsystems „Cell Broadcast“ und der Ausbau der Warn-App „NINA“. 

Nancy Faser: „Funktionierende Warnsysteme sind überlebenswichtig"

Bereits seit 2020 findet einmal jährlich ein bundesweiter „Warntag“ statt. Immer am zweiten Donnerstag im September heulen die Sirenen, es gibt Probe-Warnsignale auf allen Handys, über Radio und Fernsehen. Die Premiere scheiterte, weil die technische Infrastruktur überlastet war und die Koordination teils nicht funktionierte. 

Nach einigen Anpassungen lief der Warntag im vergangenen Jahr deutlich besser: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums konnten 97 Prozent der Menschen erreicht werden. „Wir wollen dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger sich und andere bestmöglich schützen und Gefahren rechtzeitig erkennen können. Dafür sind gut funktionierende Warnsysteme lebenswichtig“, sagt Faeser.

Schnelle Reaktion gefragt

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Doch in vielen Bereichen besteht noch ein deutlicher Nachholbedarf. „Eine Zeitenwende ist auch für die innere Sicherheit längst überfällig“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Alexander Poitz. 

Bei der Polizei und im Sicherheitsapparat gebe es „einen enormen Nachholbedarf auf mehreren Ebenen, insbesondere bei der Digitalisierung“, so Poitz. Die Sicherheitsbehörden müssten dann funktionieren, wenn sie gebraucht würden. „Wenn es brennt, müssen Feuerwehrauto und Rettungswagen vor Ort sein und fahren können und nicht erst bestellt werden“, fordert der GdP-Vize.

Zeitenwende bei der Gesundheit

Ähnlich argumentiert Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit Blick auf das Gesundheitswesen. „Wir müssen uns nicht nur für künftige Pandemien besser aufstellen“, forderte Lauterbach im März. „Wir müssen uns auch für große Katastrophen und eventuelle militärische Konflikte besser aufstellen.“ 

Das gelte besonders, weil Deutschland im Bündnisfall zur Drehscheibe bei der Versorgung von Verletzten und Verwundeten auch aus anderen Ländern werden könnte. „Es braucht auch eine Zeitenwende für das Gesundheitswesen“, ist Lauterbach überzeugt. Im Sommer will er einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. „Im Krisenfall muss jeder Arzt, jedes Krankenhaus und jedes Gesundheitsamt wissen, was zu tun ist.“

Wolfgang Hellmich: „Verteidigung umfasst nicht nur die Bundeswehr"

„Vielen ist nicht bewusst, dass der Begriff Verteidigung nicht nur die Bundeswehr umfasst, sondern eigentlich alle anderen Politikbereiche auch“, sagt Wolfgang Hellmich, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. 

„Deutschland ist der Rückraum gegenüber dem Osten. Für Transport und Versorgung wird im Kriegsfall ganz entscheidend sein, was in Deutschland passiert und dafür müssen jetzt Dinge vorbereitet werden“, erklärt er. Im Laufe des Jahres soll es deshalb einige Gesetzespakete geben, damit Deutschland insgesamt abwehrbereiter wird. 

Einen ersten Aufschlag hat Verteidigungsminister Boris Pistorius nach Ostern mit seinen Plänen für eine Strukturreform der Bundeswehr gemacht. Sie soll Kräfte bündeln und gezielter einsetzen. Auch soll die Bundeswehr wieder stärker auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet werden. 

Keine schönen Aussichten, aber realistische. „Ich bin froh“, so Pistorius, „dass wir heute den Tatsachen ins Auge sehen, dass wir die Bedrohungslage nun schonungslos analysieren und uns den Herausforderungen stellen“.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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