Inland

Katastrophenschutz: Warum ein „Warntag“ allein nicht reicht

Am Donnerstag findet der bundesweite „Warntag“ statt. Aus Sicht des Katastrophenforschers Martin Voss greift das aber zu kurz. „Denn wenn es wirklich mal kracht, haben wir neben dem eigentlichen Ereignis sehr schnell ein Vertrauensproblem.“
von Kai Doering · 6. Dezember 2022
Flutschäden in Erfstadt im Juli 2021: Die Summe der Schäden hat in den letzten Jahren zugenommen, sagt Katastrophenforscher Martin Voss.
Flutschäden in Erfstadt im Juli 2021: Die Summe der Schäden hat in den letzten Jahren zugenommen, sagt Katastrophenforscher Martin Voss.

Wie wird aus einem Extrem-Ereignis eine Katastrophe?

Das kommt ganz darauf an, wen Sie fragen. Für einen Versicherer ist Katastrophe, wenn ein Ereignis einen bestimmten Schwellenwert, etwa eine definierte Schadenssumme überschreitet. Ein Jurist dagegen wird nach dem Gesetzestext gehen. Für die Bundesländer ist Katastrophe meist, wenn ein Ereignis die vorhandenen Kräfte überfordert. Soziologisch gesehen ist Katastrophe der Zusammenbruch einer Ordnung. Als Sozialwissenschaftler interessiert mich besonders, wie Menschen, Organisationen oder auch die Politik Katastrophengefahren begegnen, was Gesellschaften tun, um Katastrophen zu vermeiden, oder eben auch, warum sie nichts tun, obwohl sie gefährdet sind.

Subjektiv hat man den Eindruck, katastrophale Ereignisse haben in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?

Auch hier ist entscheidend, welchen Maßstab Sie anlegen. Die Summe der Schäden hat in den letzten Jahren zugenommen. Das hat aber auch damit zu tun, dass wir mehr besitzen, was Schaden nehmen kann. Die Zahl der Todesopfer dagegen ist seit vielen Jahren rückläufig. Natürlich gab es Ereignisse wie die Flut im Ahrtal im vergangenen Jahr, aber die letzte auch als solche bezeichnete Katastrophe in Deutschland, bei der es mehr als 300 Todesopfer gab, war die Hamburger Sturmflut. Und die liegt mittlerweile 60 Jahre zurück. Sie war jedoch sehr prägend. Andere Ereignisse wie der Hitzesommer 2003, in dem in Deutschland etwa 7.000 Menschen starben, wurden dagegen gar nicht als Katastrophe wahrgenommen. Auch eine Grippewelle kann schnell mal über 20.000 Menschenleben kosten, aber wir zählen diese Toten nicht in der Katastrophenstatistik mit.

Haben wir in Deutschland verlernt, mit Katastrophen umzugehen?

Ja. Unsere Gesellschaft hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Zustand hinein entwickelt, den es in der Menschheitsgeschichte so bisher noch nie gab. Wir leben in Deutschland seit fast 80 Jahren in Frieden. Seit der Wiedervereinigung war der Krieg so weit weggerückt, dass wir meinten, wir könnten alles miteinander vernetzen und uns kritische Infrastrukturen so erlauben, als ob es niemanden gäbe, der Interesse hätte, sie zu manipulieren. Wir haben uns eine Kultur der völligen Nacktheit erlaubt und damit auch der Schutzlosigkeit. Der Krieg in der Ukraine hat das erschüttert.

Welche Rolle spielen Einrichtungen wie der bundesweite „Warntag“, um die Menschen für Katastrophen zu sensibilisieren?

In einer Demokratie sollte die Bevölkerung in der Lage sein, ihre eigene Gefährdung selbst beurteilen zu können. Deshalb muss über mögliche Gefahren und auch über die Schutzmöglichkeiten gesprochen werden, sodass dann alle sagen können: Das interessiert uns nicht weiter oder aber eben auch: Wir wollen mehr Schutz. Das ist sozusagen die Grundlage, aber wir führen öffentlich keinen solchen Diskurs. Wenn man also davon ausgeht, dass Menschen im Falle eines Extremwetterereignisses oder auch eines gezielten Angriffes geschützt sein wollen, dann ist Sensibilität wichtig genauso wie zu üben, ob und wie man einander erreichen kann, wenn eine Katastrophe eintritt.

Trotzdem kann so ein Warntag nur ein kleiner Teil dessen sein, was es eigentlich braucht. Wenn es hart auf hart kommt, geht es um mehr als darum, eine SMS zu verschicken oder die Sirenen heulen zu lassen. Gerade was die kritische Infrastruktur angeht, sind wir in einem derart verwundbaren Zustand, dass wir gar vielleicht für längere Zeit gar nicht merken, wenn jemand an entscheidenden Stellen manipuliert, bis es dann zu sehr gravierenden Auswirkungen kommt, wo wir am wenigsten damit rechnen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass es ohne großen Aufwand möglich ist, Bahnstrecken lahmzulegen oder Gasleitungen zu sprengen, von der Manipulation der öffentlichen Meinung gar nicht zu sprechen. Wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen und keine Gegenstrategien entwickeln, wird uns noch so einiges Unangenehmes bevorstehen.

Müsste schon in der Schule stärker auf solche Gefahren und den Umgang mit Katastrophen vorbereitet werden?

Die Schule ist sicher ein guter Ort, um Menschen schon ab dem jungen Alter Grundlagen zu vermitteln, etwa wenigstens mit einem Erste-Hilfe-Kurs. Allerdings greift auch das aus meiner Sicht zu kurz.

Wo sollte stattdessen angesetzt werden?

Vor allem braucht es zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die kritisch untersuchen, wo die Gefahren sind und was wir ihnen entgegenzusetzen haben, die aber auch kommunizieren und zwischen Bevölkerung und Behörden vermitteln können. Das kann man nicht allein dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) überlassen, denn wenn es wirklich mal kracht, haben wir neben dem eigentlichen Ereignis sehr schnell ein Vertrauensproblem, gerade in staatliche Institutionen. Deshalb brauchen wir zivilgesellschaftliche Schnittstellen, die im Katastrophenfall als Mediatoren agieren. Wenn wir so etwas zu Beginn der Corona-Pandemie gehabt hätten, wären uns viele Auswüchse wie die Talkshow-Experten und vielleicht sogar die Querdenker erspart geblieben.

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