Zeitenwende: Wieso Deutschland über ein Zurück zur Wehrpflicht diskutiert
Die Zeitenwende befeuert die Debatte über eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht in Deutschland. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius will hierzu in der kommende Woche einen Vorschlag machen. Als Vorbild könnte das jüngste Nato-Mitglied dienen.
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Die Bundeswehr sucht Nachwuchs: 68 Rekrutinnen und Rekruten der Marinetechnikschule Parow beim Gelöbnis in Stralsund.
Seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine läuft in Deutschland eine Diskussion über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Im Jahr 2011, in sicherheitspolitisch ruhigeren Zeiten, hatte sie die schwarz-gelbe Merkel-Regierung mit den Stimmen der Grünen ausgesetzt. Seitdem läuft der Umbau der Bundeswehr zu einer Berufsarmee.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hält das Aussetzen der Wehrpflicht für einen Fehler. Neben der Sicherheitslage hat er auch die Personalsituation der Streitkräfte im Blick. Eigentlich soll die Truppe von gegenwärtig 181.000 Soldatinnen und Soldaten bis zum Jahr 2031 auf 203.000 anwachsen. Tatsächlich geht die Zahl der Interessierten aber zurück.
Von Januar bis Ende Mai 2023 bewarben sich 23.414 Frauen und Männer bei der Bundeswehr. im Vergleich zum Vorjahreszeitraum war das ein Rückgang von rund sieben Prozent. Im Jahr 2010 wurden noch rund 220.000 Soldatinnen und Soldaten gezählt.
Wehrdienst: Schweden setzt vor allem auf Freiwilligkeit
Für kommende Woche hat Pistorius einen Vorschlag für ein neues Wehrdienstmodell angekündigt. Eines der Modelle, die der SPD-Politiker prüfen lässt, stammt aus Schweden.
Das jüngste NATO-Mitgliedsland setzt weitgehend auf Freiwilligkeit. Mit Erlangen der Volljährigkeit werden dort zwar sämtliche Männer und Frauen eines Jahrgangs gemustert. Tatsächlich werden aber vor allem diejenigen eingezogen, die das auch ausdrücklich wünschen. Pro Jahr verstärken rund 10.000 Wehrpflichtige die Streitkräfte. Das sind gut zehn Prozent der Gemusterten.
Im Jahr 2010 hatte auch Schweden die Wehrpflicht ausgesetzt. 2017, nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 durch Russland, wurde sie reaktiviert. Auch in Estland, Litauen, Norwegen, Österreich, der Schweiz, Griechenland, Zypern und Dänemark gilt die Wehrpflicht.
Keine Mehrheit für die Wehrpflicht
In Deutschland zeichnet sich für ein Wiedereinsetzen der alten Wehrpflicht derzeit allerdings keine politische Mehrheit ab. Nach Auffassung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird es einen „Wehrdienst wie früher“ nicht wieder geben. Die Bewältigung des Personalmangels bei der Bundeswehr sei eine „überschaubare“ Aufgabe.
„Es geht letztendlich darum, wie können wir es erreichen, dass wir genügend Frauen und Männer davon überzeugen, in der Bundeswehr zu arbeiten und dort eine Aufgabe für sich zu finden“, sagte Scholz am Dienstag bei einer Pressekonferenz mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson in Stockholm.
Auch der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Eva Högl schwebt keine Wehrpflicht wie in früheren Zeiten vor. Sie will über ein allgemeines, verpflichtendes „Dienstjahr“ diskutieren, beim Militär oder in zivilen Einrichtungen.
Die Wehrbeauftragte Eva Högl ist optimistisch
Was die vollständige Einsatzbereitschaft der Bundeswehr betrifft, ist Högl optimistisch. Die Streitkräfte seien auf dem Weg dorthin. Große Teile des 2022 beschlossenen Sondervermögens für die Truppe von 100 Milliarden Euro seien bereits vertraglich gebunden.
Wolfgang Hellmich, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hält die aktuelle Truppenstärke der Bundeswehr für zu niedrig. „Mit rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten ist Deutschland schlicht nicht verteidigungsfähig“, so der Bundestagsabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen. „Der Plan von Boris Pistorius, hier Modelle zu prüfen, um mehr Menschen für den Dienst in der Bundeswehr zu gewinnen, findet meine volle Unterstützung. Gegen die Bedrohungen, insbesondere aus Russland, muss unser Land gewappnet sein.“
Unterstützung für ein Wiedereinsetzen der Wehrpflicht kommt auch von der CDU. Auf ihrem Parteitag sprachen sich die Christdemokrat*innen jüngst für eine schrittweise Rückkehr zur Wehrpflicht aus, gerade mit Blick auf die neue Bedrohungslage in Europa. Bis zur Umsetzung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres soll eine sogenannte „Kontingentwehrpflicht" eingeführt werden, heißt es in einem Beschluss.
Viele Hindernisse für ein Comeback
Wie auch immer die Debatte weitergeht: Eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht wäre in der Bundesrepublik Deutschland nicht von heute auf morgen möglich. Wie im Grundgesetz vorgesehen, müsste der Deutsche Bundestag einen Spannungs- oder Verteidigungsfall feststellen.
Eine Reaktivierung der Wehrpflicht würde zudem auf viele praktische Hindernisse stoßen. So müsste die Infrastruktur, darunter Kasernen und Kreiswehrersatzämter, neu aufgebaut werden. Außerdem fehlt es an einsatzfähigen Waffen und weiterer Ausrüstung. Darauf hat auch Scholz verwiesen.