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Neuer Vorsitzender der SPD-Europaabgeordneten: „Häufiger auch mal Nein sagen“

René Repasi ist neuer Vorsitzender der SPD-Abgeordneten im Europaparlament. Im Interview sagt er, warum eine hohe Beteiligung an der Europawahl für die Sozialdemokrat*innen besonders wichtig ist – und warum sie ihre Strategie im Parlament ändern sollten.

von Kai Doering · 2. April 2024
Will bereits am ersten Tag nach der Europawahl verhandlungsfähig sein: der neue Vorsitzende der SPD-Abgeordneten im Europaparlament René Repasi

Will bereits am ersten Tag nach der Europawahl verhandlungsfähig sein: der neue Vorsitzende der SPD-Abgeordneten im Europaparlament René Repasi

Mitte März wurden Sie zum neuen Vorsitzenden der SPD-Abgeordneten im Europaparlament gewählt. Warum dieser Wechsel wenige Woche vor der Europawahl Anfang Juni?

Unmittelbar nach der Wahl wird es Schlag auf Schlag gehen, was Personalentscheidungen angeht. Aber auch die Frage nach den inhaltlichen Schwerpunkten für die neue Legislatur wird in den ersten Wochen geklärt. Da sollte man bereits am ersten Tag nach der Europawahl verhandlungsfähig sein. Als Jens Geier entschieden hat, dass er in der nächsten Wahlperiode nicht mehr Vorsitzender der SPD-Gruppe sein möchte, wurde die Neuwahl vorgezogen, damit seine Nachfolgerin bzw. sein Nachfolger schon jetzt die Netzwerke knüpfen kann, die er am Tag nach der Wahl aktivieren kann, um eine möglichst einflussreiche Rolle zu spielen bei allem, was dann ansteht.

Der Beschluss zum Lieferkettengesetz, der zur Plattformarbeit oder das KI-Gesetz: Vieles, über das viele Jahre in Brüssel verhandelt wurde, scheint kurz vor Wahl rasend schnell beschlossen zu werden. Woran liegt das?

Der Handlungsdruck ist enorm hoch. Es bleibt nur noch ein Monat bis zur letzten Plenarsitzung, bevor das Parlament in die Wahlkampfzeit geht. Vieles, was jetzt nicht mehr beschlossen wird, kommt erstmal auf die Wartebank. Um Gesetze nach der Wahl weiter zu verhandeln, benötigen wir erstmal eine neue Kommission. Und das wird dauern. Hinzu kommt, dass es nach aktueller Umfragenlage im nächsten Europaparlament wohl keine progressive Mehrheit mehr geben könnte. Progressive Vorhaben wie das Lieferkettengesetz dürften bei der derzeit erwartbaren Mehrheit kaum noch eine Chance haben.

Welche Dinge sollten aus Ihrer Sicht also noch vor der Wahl entschieden werden?

Das Lieferkettengesetz und die Richtlinie zur Plattformarbeit waren auf jeden Fall zwei sehr wichtige Entscheidungen. Gut wäre, wenn wir zusätzlich noch die Verordnung zum Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit beschließen würden und natürlich das Renaturierungsgesetz, das ja von der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) heftig torpediert wird.

René
Repasi

Wir Sozialdemokraten müssen grundsätzlich daran interessiert sein, eine konstruktive Kraft in der EU zu sein, aber gleichzeitig Opposition sein können.

Vielen fürchten einen Rechtsruck bei der Europawahl. Ist die Sorge begründet?

Heute kann niemand sagen, wie die Wahl im Juni ausgeht und wie das künftige Europaparlament aussehen wird. Wir erwarten aber schon, dass die Ausrichtung deutlich rechter sein wird als bisher. Einschränkend muss man aber sagen, dass es im Europaparlament nicht so disziplinierte Fraktionen gibt wie etwa im Bundestag und in den Landtagen. Je weiter man nach rechts schaut, desto undisziplinierter wird es. Eine stehende rechte Koalition wird es also schwierig haben, stabile Mehrheiten zu bilden. Die Interessen in den rechten Fraktionen sind auch sehr unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich. Man kann sich kaum vorstellen, dass die polnischen Konservativen von Donald Tusk in einer Art Koalition mit der PiS in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) sein werden. Von einem rechten Block wird also auch dann keine Rede sein können, wenn der rechte Flügel insgesamt bei der Wahl gestärkt werden sollte. Die Position von uns Sozialdemokraten ist also bei weitem nicht so schlecht, wie sie manchmal dargestellt wird. Wir sollten unsere Strategie im neuen Parlament deshalb ändern.

Was meinen Sie damit?

Ich plädiere dafür, dass wir in der nächsten Legislatur eine Doppelstrategie verfolgen: Wir Sozialdemokraten müssen grundsätzlich daran interessiert sein, eine konstruktive Kraft in der EU zu sein, aber gleichzeitig Opposition sein können. Die EVP braucht uns eigentlich nicht mehr für die rechnerische Mehrheit, sehr wohl aber für die moralische. Ein Spiel, wonach sie über rechts Inhalte durch Änderungsanträge verwässert und dann über links den pro-europäischen Segen erhalten möchte, darf für die EVP nicht aufgehen. Wir werden daher häufiger auch mal Nein sagen müssen, wenn für uns rote Linien überschritten sind, damit diese auch von der EVP respektiert werden. Wenn wir dagegen rein aus Verantwortungsgefühl rote Linien aufgeben, wird der Respekt uns gegenüber abnehmen und wir werden erpressbar. Den Preis für unseren pro-europäischen Segen müssen wir nach oben treiben. In der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D-Fraktion) müssen wir deshalb schon jetzt deutlich festlegen, was für uns die zentralen Projekte der kommenden fünf Jahre sind.

Woran denken Sie dabei?

In der zu Ende gehenden Legislatur war das Lieferkettengesetz ein zentrales Vorhaben. Das konnten wir zum Glück auf der Zielgeraden abschließen. Für die kommenden fünf Jahre sehe ich wichtige Entscheidungen im Bereich einer progressiv verstandenen Wettbewerbsfähigkeit und Industriepolitik sowie beim Schutz von Grund- und Menschenrechten etwa im Bereich Datenschutz. Die Debatte darüber läuft noch. Für mich steht aber fest: Wir müssen da vor der Wahl klar sein.

In Deutschland ist der Europawahlkampf bisher noch nicht angekommen. Erst nach Ostern werden die ersten Plakate aufgehängt. Worauf wird es für die SPD im Wahlkampf besonders ankommen?

Wir müssen alles daran setzen, die Wahlbeteiligung nach oben zu schrauben. Wer die EU ablehnt, hat mit der AfD eine Partei, die er wählen kann. Das wird leider viele motivieren, zur Wahl zu gehen. Konservative Wähler sind ohnehin meist diszipliniert, ihr Kreuz zu machen. Die SPD muss deshalb ihre eigene Klientel mobilisieren. Das schaffen wir, indem wir durch unser Handeln herausstellen, dass, wer SPD wählt, auch progressive Politik bekommt. Die SPD ist auch ein Garant dafür, dass Europa gegen die Rechtsextremen verteidigt wird. Wenn uns das gelingt, haben wir alle Chancen, am 9. Juni für eine Überraschung zu sorgen.

René
Repasi

Gerade für die Jungen ist es wichtig, jetzt zur Wahl zu gehen und progressive Parteien zu wählen. Sonst kann es ganz schnell sehr muffig in Europa werden.

Welche Rolle spielen die 16- und 17-Jährigen, die in Deutschland erstmals an der Europawahl teilnehmen dürfen?

Diese Gruppe ist bei dieser Wahl die große Unbekannte. Es gibt sehr viele junge Menschen, die kritisch feststellen, dass Klimaschutz in Europa nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Der Brexit, unter dem vor allem die jungen Briten leiden, war für viele eine schmerzhafte Lehre. Ich kann mir deshalb gut vorstellen, dass wir eine gute Wahlbeteiligung bei den Erstwählern erleben werden und wir sollten im Wahlkampf gut herausarbeiten, dass die Zukunft gerade der jungen Menschen in Europa jetzt gestaltet wird. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass viele Resultate unserer heutigen Politik in Europa erst in acht bis zehn Jahren sichtbar werden. Gerade für die Jungen ist es deshalb wichtig, jetzt zur Wahl zu gehen und progressive Parteien zu wählen. Sonst kann es ganz schnell sehr muffig in Europa werden.

Sie selbst sind 2022 als Huckepack-Kandidat ins Europaparlament nachgerückt. Nun treten Sie als Erstkandidat bei der Europawahl an. Verändert das Ihren Wahlkampf?

Als ich 2009 das erste Mal für das Europaparlament kandidiert habe, war ich 29 und stand auf Listenplatz 51. Dadurch konnte ich ganz frei als „Local Hero“ im Großraum Karlsruhe unterwegs sein und sehr viel Straßenwahlkampf machen. Als Spitzenkandidat der SPD in Baden-Württemberg habe ich nun eine Verantwortung für das ganze Bundesland und muss auch überall unterwegs sein. Der Anteil an Straßenwahlkampf wird dadurch sinken, der Anteil an Kundgebungen und klassischen Podien mit den Spitzenkandidaten der anderen Parteien dafür deutlich steigen. Mit 44 Jahren bin ich übrigens der älteste Kandidat auf unserer baden-württembergischen Landeliste. Das finde ich sehr ermutigend.

Neben Ihrer Tätigkeit als Abgeordneter sind Sie Professor für Europarecht an der Universität Rotterdam. Hilft dieser andere Blickwinkel, Europapolitik zu machen?

Ja, enorm! Bevor ich Mitglied des Europaparlaments geworden bin, war ich zwei bis dreimal pro Jahr als Sachverständiger in diverse Ausschüsse eingeladen. Dadurch hatte ich mir schon eine gewisse Expertise und auch einen Ruf erarbeitet. Als ich dann als Abgeordneter plötzlich selbst verhandelt habe, hat das zunächst für Verwirrung bei meinen Abgeordnetenkollegen wie auch einigen Journalisten gesorgt. Schon vor meinem Einzug ins Europaparlament kannte ich dadurch die verschiedenen Mechanismen und Abläufe. Ich musste mich also nicht erst groß einarbeiten. Auch dass mein Denken stark wissenschaftlich geprägt ist, hilft mit bei meiner Tätigkeit als Abgeordneter. Umgekehrt lerne ich aber auch jeden Tag, wie wenig wir in der Wissenschaft begreifen, was da eigentlich im Europaparlament passiert und wie Recht im echten Leben gemacht wird. Meinen Studenten kann ich deshalb in der Vorlesung Beispiele bringen, die es so wohl an keiner anderen Uni gibt.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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1 Kommentar

Gespeichert von Tom Kaperborg (nicht überprüft) am Mi., 03.04.2024 - 13:11

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Viele Weaehler haben offenbar den Eindruck, dass das Europaparlament als "Protestplattform" fuer heimische Unzufriedenheit dient. Das ist ein Fehler im System, das als abgehoben und buergerfern gilt. Kuerzere Legislaturen waeren fuer mehr Buergenaehe gut. Je laenger die Legislatur dauert, desto weniger Einfluss habe ich als Waehler. Das war aus meiner Sicht kontraproduktiv, als man in meinem Heitmatbundesland Rheinlandpfalz die Legislatur von 4 auf 5 Jahre verlaengerte.