Film „Die Kinder von Korntal“: Wie Gewaltopfer für Aufarbeitung kämpfen
Als Heimkinder wurden sie wie Müll behandelt. Im Erwachsenenalter bekämpfen sie das Schweigen. Der Dokumentarfilm „Die Kinder aus Korntal“ erzählt von der Ohnmacht und Kraft von Opfern systematischer Gewalt.
Salzgeber
Detlev Zander im Großen Saal der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal: Als Opfer und Aktivist kämpft er darum, das Leid der Heimkinder aus der Tabuzone zu holen.
Ein Werbefilm aus den 70er-Jahren zeigt fröhlich tanzende Kinder, ein nagelneues Schulgebäude und reges Treiben auf einer Pferdekoppel: Die Kinderheime der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal nahe Stuttgart wirken nahezu paradiesisch. Tatsächlich gingen hier etliche Kinder jahrelang durch die Hölle.
Martina Poferl erinnert sich noch genau an den Alltag in einer der Einrichtungen, die offiziell im Zeichen christlicher Nächstenliebe standen. „Anstelle einer Gutenachtgeschichte gab es abends Prügel.“ Ihr Leidensgenosse Detlev Zander drückt es noch drastischer aus: „Oben wurde gebetet und gesungen, unten wurde gefoltert.“
Mit „unten“ meint Detlev Zander den Fahrradkeller seines Kinderheims. Ein Jahr nach seiner Aufnahme wird er dort zum ersten Mal von einem Betreuer auf einer Werkbank gefesselt und vergewaltigt. Er ist vier Jahre alt. Es ist der Beginn eines quälend langen Horrors aus Missbrauch und Prügel in den 60er- und 70er-Jahren. Für diesen und andere Fälle galt zunächst: Weder Opfer noch Täter*innen sprechen darüber.
Ein gnadenloser Unterdrückungsapparat
Es dauerte bis zum Jahr 2013, bis Detlev Zander und andere ehemalige Heimkinder aus Korntal und Umgebung ihr Schweigen brachen. Es war die Zeit, als Missbrauchsvorfälle an der Odenwaldschule und in anderen Einrichtungen publik wurden.
Es ging den Korntaler*innen nicht nur um Entschädigung, sondern auch und gerade um die Aufarbeitung der Exzesse eines ebenso gnadenlosen wie verlogenen Unterdrückungsapparates, der auch vor Zwangsarbeit nicht zurückschreckte. Darum, die Mauer des Schweigens einzureißen. „Gewaltopfer haben eine Stimme, aber sie werden nicht gehört“, sagt Detlev Zander verbittert.
Dieser Kampf an mehreren Fronten ist noch lange nicht am Ende. Davon erzählt der Dokumentarfilm „Die Kinder aus Korntal“. Im Mittelpunkt stehen die Selbstzeugnisse der früheren Heimkinder. Vor der Kamera berichten sie, wie sie sich bis heute darum bemühen, Gehör zu finden.
Fürs Leben gezeichnet
Immer wieder kommen diese Menschen auf ihre Heimerfahrungen zu sprechen. Das Ausmaß an Menschenverachtung, Brutalität und Verlogenheit, das sie erfuhren, macht fassungslos. Viele Heimkinder gingen daran zugrunde und wählten den Freitod. Wer überlebte, blieb fürs Leben gezeichnet. Auch Detlev Zander hat schweres seelisches Leid von der Zeit in Korntal davongetragen. Mit anderen Betroffenen gründete er eine Selbsthilfegruppe.
Die Erinnerungsberichte sind erschütternd und machen wütend. Ihre Wirkung wird noch verstärkt, wenn Menschen zu Wort kommen, die zwar nicht während der Leidensphase der Gesprächspartner*innen Verantwortung aufseiten der Gemeindeleitung trugen, dafür aber in jüngerer Vergangenheit.
So stellt ein früherer Geistlicher Vorsteher die Glaubwürdigkeit der Opfer gerade wegen ihrer traumatischen Erfahrungen und wegen ihrer bisweilen prekären Lebensumstände infrage. Und appelliert allen Ernstes an die Kraft der Vergebung. In solch herablassenden Worten meint man zu erahnen, wie diese Gemeinde bis heute tickt und was den Schrecken früherer Jahre erst möglich gemacht hat. Schon damals wurden die Kinder, die oft sozial schwachen Familien entstammten, wie Aussätzige behandelt.
Auch die Ausführungen eines anderen Ex-Funktionärs über die lächerlich niedrigen Entschädigungszahlungen, die auf die interne Aufarbeitung folgten, zeigen, dass juristisch und moralisch viel zu tun bleibt.
Das „heilige" Städtchen schottet sich ab
„Die Kinder aus Korntal“ ist auch ein Porträt eines sozialen und kulturellen Milieus, in dem es nichts gibt, was es nicht geben darf. Mitglieder der Brüdergemeinde lassen während der Interviewszenen erkennen, dass sie das wahre Ausmaß der Vorfälle in Korntal nicht erkennen wollen oder können.
Mittlerweile haben etwa 150 frühere Heimkinder ihr Leid öffentlich gemacht. Rund 80 Täter*innen wurden ermittelt. Das Selbstverständnis des landläufig als „heilig“ titulierten Städtchens mitsamt der tief in ihm verwurzelten pietistischen Gemeinde wurde davon offenbar nur mäßig erschüttert. Bilder von herausgeputzten Eigenheimen an menschenleeren Straßen unterstreichen den Eindruck von Verschlossenheit.
Für ihren Film hat Regisseurin Julia Charakter eine sehr behutsame und leise Form gewählt. Die Stimmen der Menschen, die noch immer Mühe haben, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien und die sich nun, im Hinblick auf die schwierige Aufarbeitung, gegen den „Missbrauch nach dem Missbrauch“ seitens der Brüdergemeinde wehren, werden dadurch umso lauter. Sie müssen gehört werden.
„Die Kinder aus Korntal“ (Deutschland 2023), ein Film von Julia Charakter, 90 Minuten, FSK ab zwölf Jahre
Im Kino