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Sexueller Kindesmissbrauch: „Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung“

Als im Januar 2010 der sexuelle Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich wurde, war das Entsetzen groß. Heute ist das öffentliche Bewusstsein deutlich größer, sagt die frühere Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann. Trotzdem bleibe noch viel zu tun.

von Kai Doering · 28. Dezember 2023
Kinder leiden stumm: Christine Bergmann scheidet Ende des Jahres aus der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aus.

Kinder leiden stumm: Christine Bergmann scheidet Ende des Jahres aus der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aus.

Sie waren Bundesfamilienministerin und die erste Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Ende des Jahres scheiden Sie nun nach acht Jahren aus der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aus. Was nehmen Sie mit aus dieser Zeit?

Als mich die damalige Bundesfamilienministerin 2010 gefragt hat, ob ich erste Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs werden möchte, musste ich nicht lange überlegen. Es war klar, dass das Thema brennt und wir dringend etwas tun müssen. Vor allem sah ich das damals aber als Chance, endlich etwas gegen die Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch zu tun, nachdem das Thema viele Jahre lang politisch und öffentlich kaum interessiert hatte. Die rot-grüne Bundesregierung hatte zwar bereits das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung durchgesetzt – übrigens gegen die Stimmen von CDU und CSU – gesellschaftlich war der Boden für eine Aufarbeitung weit zurückliegender Fälle also bereitet. Aber sonst war in diesem Bereich noch kaum etwas passiert. Ich hatte auch nicht mit diesem Ausmaß an Missbrauchsfällen gerechnet, das sich mir dann offenbart hat. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Menschen, die als Kinder missbraucht wurden, kämpfen damit ihr Leben lang. Das wird leider häufig vergessen.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs kümmert sich vor allem um Fälle, die zum Teil schon sehr lange zurückliegen – aus der Bundesrepublik wie aus der DDR. Gibt es da Unterschiede?

Vor allem gibt es sehr viele Gemeinsamkeiten, aber Unterschiede sind auch da, ganz klar. Die meisten Betroffenen, die sich bei uns melden sind zwischen 40 und 60 Jahre alt. Einige reden mit uns das erste Mal über ihre Erlebnisse. Als ich 2010 Unabhängige Beauftragte wurde, war eines der ersten Dinge, eine telefonische Anlaufstelle zu schaffen, bei der sich Missbrauchsopfer vertraulich melden und Rat holen konnten. Dabei ist mir schnell aufgefallen, dass es aus den sogenannten Neuen Bundesländern deutlich weniger Anruferinnen und Anrufer gab als aus dem Rest des Landes. Wir haben das deshalb wissenschaftlich untersuchen lassen. Dabei wurde deutlich, dass das Ausmaß sexueller Gewalt hier wie dort gleich war. In der DDR war das Thema aber viel stärker tabuisiert. Das wirkt zum Teil bis heute nach. Eine öffentliche Anhörung der Aufarbeitungskommission 2017 in Leipzig hat eine größere öffentliche Wahrnehmung des Themas ermöglicht und offenbar vielen die Augen geöffnet. Danach zumindest haben sich deutlich mehr Menschen aus Ostdeutschland bei uns gemeldet und uns ihren Geschichten erzählt.

Christine
Bergmann

Kinder leiden stumm. Das wird oft vergessen.

Welche Hilfe bekamen die Opfer am Telefon?

Es ging vor allem darum, über das Erlebte sprechen zu können. Wir hatten 60 Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die als Ansprechpartner zur Verfügung standen. Zu den Anrufen hinzu kamen noch unzählige Kontakt-Aufnahmen per E-Mail oder Brief. An der telefonischen Ansprechstelle fanden Betroffene erstmals Gehör und es wurde ihnen geglaubt. Das Schreckliche für Missbrauchsopfer ist ja neben dem Erlebten, dass ihnen häufig unterstellt wurde und wird, es sei ja alles schon so lange her und könne doch nicht mehr so schlimm sein. Das macht auch die Anerkennung als Opfer oft schwierig. Die Hauptbotschaft eigentlich aller Betroffenen war: Andere sollen nicht das erleben müssen, was wir erlebt haben. In einer wissenschaftlichen Begleitforschung wurde später nicht nur untersucht, was die Betroffenen als Kinder erleben mussten, sondern auch, welche Folge das Erlebte bis ins Erwachsenenalter hinein hatte.

Wo kommen Fälle sexuellen Missbrauchs besonders häufig vor?

Leider in der gesamten Gesellschaft und mehr als die Hälfte aller Fälle in der Familie. Machtsituationen und Abhängigkeiten begünstigen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Die katholische Kirche steht in der öffentlichen Debatte ja oft im Mittelpunkt, aber auch im Sport werden immer mehr Fälle bekannt, weil die Strukturen die Gewalt häufig begünstigen, von Vereinen über Sportschulen bis hin zu Internaten. Hier kommt es auch nicht nur zu sexuellen Übergriffen, sondern auch zu allen Formen psychischer Gewalt. Ein Hindernis für die Aufarbeitung ist zudem, dass Sportlerinnen und Sportler besonders selten über das Erlebte sprechen, denn wer spricht, gilt schnell als Nestbeschmutzer der „Sportfamilie“ und muss mit Konsequenzen rechnen. Aufarbeitung ist auch immer ein Kampf gegen Abwehr.

Die Kommission arbeitet bereits seit acht Jahren, eine Unabhängige Beauftragte gibt es seit 2010. Hat sich das Bewusstsein in der Bevölkerung für sexuellen Missbrauch in dieser Zeit gewandelt?

Die Gesellschaft hat in dieser Zeit schon eine Menge gelernt, ja. Als die Kommission eingerichtet wurde, dachten vermutlich viele: Lass sie mal ein paar Jahre arbeiten und dann hat sich die Sache erledigt. Aufarbeitung hat aber kein festes Ende. Wir erleben doch, dass immer wieder neue Fälle bekannt werden. Ein Erfolg auch von Aufarbeitung ist aus meiner Sicht, dass der Großteil der Bevölkerung inzwischen weiß, dass es sexuellen Missbrauch gibt, denn nur so kann ein Bewusstsein wachsen, das Grundlage dafür ist, Übergriffe künftig zu verhindern. Gleichzeitig sagt aber eine große Mehrheit der Menschen, dass sie sich Übergriffe in ihrem direkten Umfeld nicht vorstellen kann. Das Ganze wird also eher als abstrakte Gefahr wahrgenommen, die mit ihnen persönlich nichts zu tun hat. Kinder leiden stumm. Das wird oft vergessen. Umso wichtiger ist, dass jede und jeder hinsieht, Signale wahrnimmt, nicht wegschaut und Verantwortung übernimmt.

Christine
Bergmann

Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung – und auf Unterstützung dabei.

Vor einigen Wochen hat die Kommission eine Untersuchung vorgelegt, die bei den Jugendämtern zum Teil große Defizite bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch sieht. Wo müssen staatliche Strukturen besser werden?

Sexueller Kindesmissbrauch passiert am häufigsten in den Familien. Jugendämter spielen deshalb eine ganz wichtige Rolle, wenn es um seine Bekämpfung geht. Dafür brauchen sie auch ein besseres Image und leichtere Zugänge, damit sich Betroffene viel selbstverständlicher an sie wenden, wenn sie Hilfe benötigen. Aber auch es braucht auch mehr Wissen bei den Jugendämtern. Natürlich müssen auch Schulen Schutzräume sein. Das setzt voraus, dass Lehrerinnen und Lehrer auch in diesem Bereich gut ausgebildet und sensibilisiert sind. Entscheidend für den Kampf gegen Missbrauch ist immer die Haltung: Will ich wissen, was passiert ist oder verschließe ich bewusst die Augen? Leider geschieht zweites noch viel zu oft.

Die Bundesregierung will eine Berichtspflicht für die Unabhängige Beauftragte gegenüber dem Bundestag einführen. Unterstützen Sie das?

Ja, das ist sehr wichtig und wir hätten nichts dagegen, wenn es solche eine Pflicht auch für die Kommission gäbe. Unser nächster Bericht wird Ende Januar vorgestellt, aber es hat natürlich ein anderes Gewicht, wenn er dem Parlament vorgelegt werden muss. Mit einer gesetzlichen Grundlage für das Amt der Unabhängigen Beauftragten und für die Aufarbeitungskommission sollen auch die Rechte von Betroffenen gestärkt werden. Für Institutionen bedeutet das mehr Pflichten. Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung – und auf Unterstützung dabei. Das fängt beim Zugang zu Akten an. Der Staat hat hier eine Wächterfunktion, dass Kindesschutz und Aufarbeitung stattfinden.

Gibt es etwas, das Sie gern noch erreicht hätten, bevor Sie aus der Kommission ausscheiden?

Gewissheit für zwei Dinge sind mir wichtig: Diejenigen, die als Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt erlebt haben, erhalten Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen. Und Kinder und Jugendliche heute bekommen den bestmöglichen Schutz. Dafür müssen alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wissen, wie sie im Falle eines Verdachts damit umgehen und welche Hilfsangebote es gibt. Im Sportbereich soll es bald ein unabhängiges Zentrum für SafeSport geben, das Betroffenen helfen und zugleich einen sicheren und gewaltfreien Sport ermöglichen soll. So etwas halte ich auch für andere Bereiche für sinnvoll.

Christine Bergmann war von 1998 bis 2002 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Von März 2010 bis Oktober 2011 war sie Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs im Auftrag der Bundesregierung.

Seit Januar 2016 ist Christine Bergmann Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Zum neuen Jahr scheidet sie aus der Kommission aus.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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