Kultur

Filmtipp „Brother's Keeper“: Wie Menschlichkeit Gehorsam schlägt

Um seinem Freund zu helfen, bricht ein kurdischer Internatsschüler die Regeln eines repressiven Apparates. Der Film „Brother's Keeper“ zeichnet ein düsteres Bild von den Verhältnissen in der Türkei.
von ohne Autor · 28. Juli 2023
Starke Freundschaft: Yusuf (Samet Yildiz) und Memo (Nurullah Alaca) halten nicht nur in der Not zusammen.
Starke Freundschaft: Yusuf (Samet Yildiz) und Memo (Nurullah Alaca) halten nicht nur in der Not zusammen.

Autoritäre Strukturen zeichnen sich auch dadurch aus, mittels abstrakter Begriffe unliebsame Fakten vergessen zu machen. Zum Beispiel im Klassenzimmer. „Es gibt kein Kurdistan“, herrscht die Lehrerin einen Schüler an. Auf einer Landkarte soll er die Regionen der Türkei benennen. Sein Finger zeigt auf den Osten des Landes. „Das ist Ostanatolien“, korrigiert die Pädagogin den Satz des Jungen.

Was die offizielle geografische Begrifflichkeit betrifft, hat die Lehrerin natürlich recht. Doch diese Begrifflichkeit ist hohl. Außerdem liegt das staatliche Internat für kurdische Jungen genau in jenem Gebiet, das der Schüler gezeigt hat. Es ist die von Kurd*innen bewohnten Gebirgsregion im Osten des Landes. Die sich im Geografieunterricht bietende Situation ist absurd.

Hort einer türkisch-nationalistischen Ideologie

Von solchen Situationen gibt es in dem Film „Brother's Keeper“ so einige. Was wir von dem Internat als Hort einer türkisch-nationalistischen-zentralistischen Ideologie zu sehen bekommen, wirkt zunächst einschüchternd. Ständig müssen die Jungen damit rechnen, von dem mit Stöcken hantierenden Lehrpersonal gedemütigt zu werden.

Auf den zweiten Blick wird klar, auf welch tönernen Füßen dieses repressive Mikrosystem ruht und welch lächerliche Seiten es bietet. Und sei es nur, weil ein fluchender Lehrer in dieser kafkaesken Abgeschiedenheit mal wieder kein Handynetz hat. Fast erscheinen sie als Opfer der Umstände. Die maroden Gebäude erscheinen als Metapher für den Zustand eines größeren Gebildes.

Die suspekte Freundschaft zweier Jungen

Das Drama kreist um zwei Jungen in genau dieser Schule am gefühlten Ende der Welt. Der Schulalltag ist geprägt von Drill, Gehorsam und Angst. Dem halten Yusuf und Mehmet alias Memo etwas entgegen, was den fast ausschließlich männlichen Lehrkräften nicht gerne gesehen wird, weil sie es für subversiv halten: Freundschaft. Als Memo eines Morgens nicht aufstehen kann, missachtet Yusuf sämtliche Regeln. Anstatt im Unterricht zu sitzen, schleppt er seinen Freund ins Krankenrevier und harrt mit ihm dort aus.

Weil sich Memos Zustand nicht bessert, scharen sich immer mehr ratlose und fahrige Lehrpersonen um die beiden Elfjährigen. Mit wachsender Verzweiflung sehnt man die Ankunft des Krankenwagens herbei. Doch der lässt an diesem dem tief verschneiten Ort auf sich warten. Es gibt keinen Ausweg.

Verlogenheit und Verantwortungslosigkeit des Apparates

In dieser extremen Situation kommen nach und nach die Hintergründe von Memos Zustand ans Licht. Es hageln gegenseitige Schuldzuweisungen. Dabei wird das ganze Ausmaß der Verlogenheit und Verantwortungslosigkeit aufseiten des Apparates deutlich. Und zugleich der Mut der Kinder, der Obrigkeit ein Schnippchen zu schlagen.

Regisseur und Co-Drehbuchautor Ferit Karahan verarbeitet in seinem vorwiegend mit Laiendarsteller*innen gedrehten Film persönliche Erfahrungen. Die Kriege in seiner kurdischen Heimat hat er bereits in früheren Filmen reflektiert. Anfang der 90er-Jahre, in einer Hochphase des Konfliktes zwischen kurdischen Kämpfer*innen und türkischem Militär, besuchte auch er ein staatliches Internat in dieser abgelegenen Region. Angst und Repression sind ihm vertraut. 

Kleine Zeichen des Widerstandes

Vor einigen Jahren seien die Erfahrungen der Internatszeit wieder hochgekommen. Karahan begründet dies mit einer Renaissance der gewaltvollen Strukturen der 90er-Jahre in der Türkei. Der 1983 geborene Künstler bezieht sich auf die wieder eskalierte militärische Bekämpfung kurdischer Milizen und das rücksichtslose Vorgehen gegen politischer Gegner*innen unter Präsident Recep Tayyip Erdo?an seit dem Putschversuch von 2016.

Diese politische Gemengelage schwingt in dem etwas behäbigen, nicht übermäßig kontrastreichen Erzählfluss von „Brother's Keeper“, abgesehen von jener Szene im Klassenzimmer, eher im Hintergrund mit. Wohl aber ist das oberste Ziel der Lehranstalt ohne Mühe auszumachen: Junge Menschen sollen „auf Kurs“ gebracht werden. Umso beeindruckender sind die Zeichen des Widerstandes, seien sie auch noch so klein.

Subtile und intime Bilder

So wie bei Yusuf, der Menschlichkeit über Gehorsam stellt. Für diese subtile Renitenz findet Karahan subtile und intime Bilder, die meistens ohne große Worte auskommen. Das Reden überlässt dieser Junge oft den Erwachsenen, doch das Denken lässt er sich nicht verbieten. Und doch dominiert am Ende ein resignativer und düsterer Eindruck.

Info:
„Brother's Keeper“ (Türkei 2021), ein Film von Ferit Karahan, mit Samet Yildiz, Ekin Koç, Mahir Ipek, Nurullah Alaca u.a., 85 Minuten, OmU.
www.dejavu-film.de
Ab 27. Juli im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare