Türkei: Warum die CHP droht, bedeutungslos zu werden
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In diesen Tagen feiert die türkische Republik pompös ihren 100. Geburtstag, und die Verehrung des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk ist im Volk so groß wie selten. Atatürks Partei hingegen, die republikanische Volkspartei CHP, befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt. Am Wochenende wird sie in Ankara einen außerordentlichen Parteitag abhalten will, doch die türkische Wählerschaft interessiert das kaum.
Die Folgen der verlorenen Präsidentschaftswahl
Das war von ein paar Monaten noch vollkommen anders. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai waren die Hoffnungen in CHP-Chef Kilicdaroglu gigantisch. Mit einem breiten Sechserbündnis und als Präsidentschaftskandidat wollte Kilicdaroglu Präsident Erdogan vom Thron jagen und das Land wieder auf demokratische Pfade führen. Viele Umfragen sprachen für ihn, doch dann verlor Kilicdaroglu knapp. Darauf reagierte er denkbar schlecht: Er schloss eine Rücktritt als CHP-Chef aus und spielte die Niederlage der Wahl herunter – dabei hatte er die Wahl zuvor noch als „die wichtigste in der Geschichte der Türkei“ genannt.
Islamisch-konservativen Oppositionsparteien hatte Kilicdaroglu durch großzügige Vergabe von Listenplätzen den Einzug ins Parlament gesichert, das im Ergebnis nun so rechts ausgerichtet ist wie noch nie zuvor in der türkischen Geschichte. Gedankt hat es ihm niemand – schon bald nach der Wahl zerbrach das Sechserbündnis.
Kilicdaroglus Gegner werden lauter
Zurück blieb eine tief enttäuschte, politikverdrossene Wählerschaft. Viele oppositionell gesinnte Türk*innen begannen Kilicdaroglu als Marionette Erdogans zu sehen, als zahnlosen Tiger, der nur den Oppositionellen mimt. Innerhalb der CHP wurden Rufe nach einem Rücktritt Kilicdaroglus laut, allen voran der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu forderte lautstark einen internen Wandel.
Kilicdaroglu scheint das alles an sich abprallen zu lassen. Seit 2010 war er sieben Mal Parteichef, nun wird er wohl erneut kandidieren. „Ich werde die Partei in einen sicheren Hafen führen“, erklärt Kilicdaroglu. Zu gegebener Zeit wolle er das Zepter weitergeben „an einen sachkundigen, erfahrenen und guten Sozialdemokraten“ aus der eigenen Partei, erklärte er jüngst dem Nachrichtenportal t24. Wer das sein soll, und wann das passieren soll, das alles lässt er offen.
Parteikolleg*innen kritisierten ihn heftig für diese Worte, unterbinden sie doch indirekt eine demokratische Debatte um seine Nachfolge. Zugleich erklärt Kilicdaroglu, sich für den Wandel innerhalb der Partei einzusetzen, etwa jüngeren Mitgliedern und Frauen zu mehr Posten verhelfen zu wollen. Das ist überfällig.
Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet
Als aussichtsreichster Gegenkandidat zu Kilicdaroglu tritt der stellvertretende Vorsitzende der CHP-Fraktion im türkischen Parlament Özgür Özel an. Der gelernte Apotheker ist seit 2015 Abgeordneter der südtürkischen Stadt Manisa und als wortstarker Redner bekannt. Er trete an, um den „Wählern wieder Hoffnung zu geben“, erklärte er jüngst. Er wolle das Volk in die Mitte seiner Politik stellen, Demokratie und Meinungsfreiheit wieder herstellen, die Polarisierung überwinden, mehr gesellschaftliche Partizipation anstreben und das Erbe Atatürks im neuen Jahrhundert fortführen, so heißt es in seinem Programm. Das sind schöne Worte, die ebenso von Kilicdaroglu stammen könnten. Viel konkreter wird es nicht.
Vor dem Parteitag am Wochenende sammeln beide Kandidaten nun fleißig Zustimmung unter den Delegierten. Es wird wohl ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Kilicdaroglu kann auf die Unterstützung von 96 der 130 CHP-Abgeordneten zählen, Özel hingegen hat 185 Istanbul-Delegierte auf seine Seite gezogen. Imamoglu selbst wird als Präsent den zweitätigen Parteitag in Ankara leiten, er gilt als Unterstützer von Özel.
Die Türkei schlittert weiter in die Krise
Während die CHP mit parteiinternen Machtkämpfen beschäftigt ist, haben die Wähler*innen ganz andere Sorgen. Die Hyperinflation hat nach der Wahl noch mal rasant an Fahrt aufgenommen. Im Erdbebengebiet wohnen immer noch zehntausende von Menschen in Containern. Erdogan wirkt weiterhin gesundheitlich stark angeschlagen, liebäugelt mit der Hamas und hetzt gegen den Westen. Junge, gut ausgebildete Türk*innen ziehen ins Ausland, tausende von Türk*innen sind in diesem Jahr sogar illegal nach Europa geflohen.
Von Meinungsfreiheit kann keine Rede mehr sein, ein bleiernes Schweigen liegt seit den Wahlen über der Türkei. Erst am Donnerstag wurde der angesehen Journalist Tolga Sardan verhaftet, weil er ein Geheimdienstdokument über die Zustände des Justizsystems öffentlich machte. Von der CHP hört man zu alldem nur die üblichen Phrasen. Ob sie auf diese Weise bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2024 wieder alle wichtigen Metropolen für sich gewinnen kann, bleibt höchst fraglich.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.