Erdogan oder Kilicdaroglu: Wie sich der türkische Wahlkampf zuspitzt
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Voll war es auf der Bühne, als der türkische Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu am Samstag in Istanbul vor hunderttausende Anhänger*innen trat. Ihm zur Seite standen Parteiführer seines Sechserbündnisses und die Bürgermeister von Istanbul und Ankara. „Gemeinsam werden wir es schaffen“ rief Kilicdaroglu in die jubelnde, Fahnen schwenkende Menge. Ein ganzes Team tritt hier gegen den Alleinherrscher Erdogan an, so seine Botschaft.
Junge wie Alte waren zur Kundgebung der türkischen Opposition gekommen. Auf dem Hinweg füllten sie auffallend ruhig, fast schüchtern die Züge, ließen sich kaum anmerken, wohin sie fuhren. Auf dem Rückweg hingegen skandierten sie Kilicdaroglus langjährigen Slogan „Recht, Gesetz und Gerechtigkeit!“, sangen „Zwiebeln, Kartoffen, auf Wiedersehen Erdogan!“ – in Anspielung auf die exorbitant angestiegenen Lebensmittelpreise. Die beiden Studentinnen Irem und Simal, 18 und 19 Jahre alt, waren weit vom anderen Ende der Stadt angereist, um die Kundgebung zu besuchen. „Wir brauchen so dringend einen Wechsel! Für unsere Freiheit, vor allem als Frau, ist es so wichtig, dass Kilicdaroglu gewinnt“, sagen sie. Eine Rentnerin mit bäuerlichem Kopftuch auf dem Platz daneben pflichtet ihnen bei.
Es zeichnet sich ein knappes Rennen ab
Eine leise Hoffnung ist unter Kemal Kilicdaroglus Anhängern zu spüren. Laut aktuellen Umfragen liegt der Oppositionskandidat rund fünf Prozentpunkte vor Erdogan, soviel wie noch kein Oppositionskandidat zuvor. Es zeichnet sich ein knappes Rennen ab, ein zweiter Wahlgang am 28. Mai ist wahrscheinlich. Zugleich herrscht Angst. Wird es zu Wahlbetrug oder Gewalt kommen, würde die amtierende Erdogan-Regierung eine Wahlniederlage eingestehen?
Das solche Ängste leider begründet sind, zeigte sich am Sonntag. Bei einer Wahlkampfkundgebung für Kilicdaroglu wurde Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu in der osttürkischen Stadt Erzurum von Unbekannten mit Steinen beworfen. Einige Anhänger*innen wurden veletzt, darunter ältere Menschen und ein Kind. Imamoglu wirft der örtlichen Polizei vor, bloß tatenlos zugesehen zu haben. Erdogans ultranationalistischer Innenminister Süyleman Soylu twitterte später am Abend, Imamoglu selbst sei der Provokateur. Die Tat verurteilte er mit keinem Wort. Diese Haltung schürt die Angst vor Gewalt nur noch weiter.
Zunehmend scharfe Töne im Wahlkampf
Schon Tage zuvor hatte Innenminister Soylu den 14. Mai als „politischen Putsch“ des Westens bezeichnet, mit dem Ziel, die Türkei zu zerstören. Erdogan forderte kürzlich bei einer Kundgebung in Antalya seine Anhänger*innen auf, Kilicdaroglu an der Urne „zu begraben“. Seine Rhetorik wurde in den letzten Tagen immer aggressiver, sein Twitterprofil zeigt ihn neuerdings mit Pilotenjacke und Fliegerbrille. Auch er hatte am Wochenende eine Massenkundgebung in Istanbul abgehalten, laut eigener Aussage kamen 1,7 Millionen Anhänger*innen. Ihre Loyalität zum Präsidenten war das Kernthema der Kundgebung. Tatsächlich ist Erdogans islamisch-konservative Kernwählerschaft ihm weiter treu verbunden. Sie sehen in ihm eine autoritäre, aber starke und gütige Vaterfigur. Sie allein bildet aber keine Mehrheit im Land – das weiß auch Erdogan.
Hyperinflation und Währungskrise sind neben den verheerenden Folgen des Erdbebens am 6. Februar die dringenden Probleme dieses Wahlkampfes. Vor allem die Unter- und Mittelschicht haben in den letzten Jahren immens an Kaufkraft verloren, selbst die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich vervielfacht. Während Kilicdaroglu Erdogans verfehlte Finanz- und Wirtschaftspolitik, Korruption und Verschwendung dafür verantwortlich macht, thematisiert Erdogan die Inflation nur ungern. Er konzentriert sich mehr darauf, gebetsmühlenartig all die Brücken, Autobahnen, Krankenhäuser und Flughäfen aufzuzählen, die in seiner Amtzeit gebaut wurden, prahlt stolz mit dem ersten türkischen Atomkraftwerk und dem ersten heimischen Elektroauto. Begleitet wird das wie üblich von Attacken auf die Opposition. Weil auch die kurdennnahe HDP Kilicdaroglu unterstützt, beschuldigt Erdogan seinen Rivalen, von der PKK gesteuert zu werden. „Ich dagegen empfange meinen Auftrag von Allah!“, so der Präsident.
Kilicdaroglu geht in die Offensive
Zugleich lässt Erdogan nichts unversucht, Kilicdaroglu als ungläubig und religionsfeindlich zu präsentieren. Mit Wirkung: „Manche meiner Bekannten fürchten, dass Moscheen geschlossen werden, wenn Kilicdaroglu und seine säkulare CHP an die Macht kommen“, berichtet etwa eine Istanbuler Sekretärin. Absurde Ängste, könnte man meinen. Doch weil Kilicdaroglu und die CHP vor vielen Jahren für das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen waren, stößt Erdogans Propagandafeldzug bei so einigen Konservativen auf fruchtbaren Boden.
Kilicdaroglu versucht dem aktiv entgegenzutreten, in dem er zum Freitagsgebet geht, sich auf Wahlplakaten neben Kopftuchträgerinnen zeigt und religiöses Vokabular verwendet. Auf Twitter veröffentlichte er ein Video, bei dem er offen bekennt, dass er der religiösen Minderheit der Aleviten angehört – ein Tabubruch. Denn Aleviten waren in der Türkei so oft Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt, dass sie ihre Konfession nur selten öffentlich preisgeben. Kilicdaroglu appellierte in seinem Video zugleich an das Volk, ethnische und religiöse Konflikte zu überwinden, sich auf Gemeinsamkeiten statt auf das Trennende zu konzentrieren. Das Video sorgte im In- und Ausland für großes Aufsehen, wurde mehr als 114 Millionen Mal angesehen. Es symbolisiert Kilicdaroglus Versprechen auf einen neuen, versöhnlichen Politikstil. In wenigen Tagen wird sich zeigen, ob die Türkei sich für dieses Versprechen entscheiden.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.