Nach Erdbeben in der Türkei: Unterstützung durch Sozialdemokratinnen
IMAGO/Depo Photos
„Die ersten zwei Tage war ich wie gelähmt“, sagt Victoria Hiepe. Die 26-jährige Berlinerin ist Mitglied des Juso-Bundesvorstands und Vizepräsidentin der International Union of Socialist Youth (IUSY), dem weltweiten Zusammenschluss sozialdemokratischer Nachwuchsorganisationen. Seit eineinhalb Jahren studiert Hiepe in der türkischen Hauptstadt Ankara an der Middle East Technical University, einer der größten Universitäten des Landes. Viele ihrer Kommiliton*innen haben Angehörige in der vom Erdbeben betroffenen Region. In der Nacht, in der sich die Naturkatastrophe ereignete, erhielten sie ab 4 Uhr die ersten Nachrichten von Freund*innen und Familie.
Hilfe beginnt schon morgens
Schon am nächsten Morgen starteten an der Universität die ersten Hilfsaktionen. „Wir haben direkt angefangen, Dinge zu organisieren, wahrscheinlich sogar besser als der Staat“, sagt Hiepe. Die Kritik an der Zentralregierung unter Präsident Erdogan ist aktuell groß, wie sie berichtet. Die seit Jahrzehnten in der Türkei erhobene Erdbebensteuer sei zweckentfremdet worden, das Militär erst am zweiten Tag in die betroffene Region entsandt worden, der Katastrophenschutz habe verhindert, dass potenzielle Helfer*innen die Region rechtzeitig hätten erreichen können. Dadurch seien die Menschen in der Türkei gewohnt, sich selbst organisieren zu müssen, sagt die Jungsozialistin.
Besser lief es an ihrer Universität, wo eine kleine Handlungszentrale aufgebaut worden sei, um zu koordinieren, wo gerade was gebraucht werde und in welchen Gebieten Menschen vermisst würden. Dabei unterstützte auch die Nachwuchsorganisation der SPD-Schwesterpartei CHP, der größten türkischen Oppositionspartei. Die Hilfslieferungen seien so nicht einfach am Straßenrand irgendwo abgestellt worden, sondern gezielt dort angekommen, wo sie benötigt wurden. Nun in der zweiten Woche nach dem Unglück geschehe diese Arbeit noch gezielter und koordinierter, berichtet Hiepe.
Appell an Europa: „Vergesst uns nicht!“
Sie selbst helfe seit einer Woche dabei, Güter zu verladen, Dinge zu organisieren und in ihrem privaten Umfeld spenden zu sammeln. Die Situation in der betroffenen Region, in der circa 20 Millionen Menschen leben, sei sehr dramatisch, sagt sie. Es gebe keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine Toiletten und Temperaturen von bis zu minus 10 Grad. Deswegen gehe es jetzt darum, die Menschen in den Notzelten mit dem Notwendigsten zu versorgen. Hygieneartikel, Betten, Decken, aber auch Heizöfen. Auch gebe es an ihrer Universität Solidaritätsstipendien für „Leute, die alles verloren haben“, sagt Hiepe.
„Dass hier Erdbeben passieren, ist man gewohnt, aber nicht in diesem Ausmaß“, sagt sie. Deshalb habe sie auch etwas Angst davor, was passiere, wenn das gesamte Ausmaß der Katastrophe sichtbar werde, wie viele Menschen gestorben seien. Auch mit Blick auf die Wahlen, die in der Türkei in wenigen Monaten anstehen, sagt sie: „Es ist wichtig, dass europäische progressive Kräfte solidarisch mit progressiven Kräften hier sind, um auch ein Gegennarrativ zu setzen, dass es auch eine Alternative zu Erdogan gibt.“ Sie appelliert daher: „Vergesst uns nicht!“ Auch würde sie sich mehr Solidarität aus Deutschland für die betroffene Region wünschen. „Für ein Land, das von türkischen Gastarbeitern mitaufgebaut wurde, wurde in Deutschland sehr wenig Empathie gezeigt“, kritisiert sie.
SPD-Abgeordnete hat Familie in der Region
Derya Türk-Nachbaur sitzt für die SPD im Deutschen Bundestag. „Als ich zum ersten Mal von dem Erdbeben hörte, war ich schockiert“, erzählt sie. Ihre Angehörigen leben in Kahramanmaras in der Nähe des Epizentrums des schweren Erdbebens. „Ich habe sofort meine Familie angerufen.“ Der Großteil lebe in der Stadt Elbistan, ihr Vater stamme von dort. Dann die Entwarnung: „Es geht allen relativ gut“, sagt sie. Bis auf ein paar Blessuren und Sachschäden sei keiner ernsthaft verletzt.
Sie ist Mitglied im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages. Dieser hielt direkt nach dem Unglück eine Sondersitzung ab: „Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie so schnell reagiert hat.“ Berlin entsandte unmittelbar nach dem tragischen Ereignis Helfer*innen des THW in die Erdbebenregion. Derya Türk-Neubaur bekommt unterdessen immer wieder Anfragen von Menschen, die gerne helfen wollen: „Dabei verweise ich immer wieder auf die Webseite des Auswärtigen Amtes, denn da sind alle wichtigen Informationen aufgelistet.“
Türk-Nachbaur: „Wir müssen den Menschen helfen, die keine Verwandschaft mehr haben“
Vor Ort sieht die 49-Jährige zwei große Probleme: „Wir müssen den Menschen helfen, die keine Verwandtschaft mehr vor Ort haben.“ Darüber hinaus irren zwischen den Trümmern Kinder umher, die ihre Eltern verloren haben. „Da benötigen wir dringend die Angehörigen, die diese Kinder in Deutschland aufnehmen.“ Zumindest eine Sache ist geklärt: Die Bundesregierung hat die Visavergabe vereinfacht – sie sind laut Medienberichten nun innerhalb von fünf Tagen möglich. Damit sollen Erdbebenopfer schnell und unbürokratisch bei Angehörigen in Deutschland unterkommen.
„Die effektivste Hilfe für die Menschen in dem Erdbebengebiet sind Geldspenden und da empfehle ich ‚Deutschland hilft‘“, rät sie. Was am Ende bleibt sei der Schrecken: „Die Menschen in der Erdbebenregion sind in einem Schockzustand und das wird sicherlich noch eine ganze Weile so bleiben.“
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo