International

„Bei einem knappen Wahlergebnis wird Erdoğan alle Register ziehen.“

Am Sonntag wird in der Türkei gewählt. Macit Karaahmetoğlu, Vize-Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergesellschaft, sieht gute Chancen der Opposition Erdoğan zu schlagen. An einen Präsidenten Kılıçdaroğlu hat er große Erwartungen.
von Kai Doering · 9. Mai 2023
Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu vor Anhänger*innen: Fünf weitere Jahre Erdoğan würde die türkische Wirtschaft nicht verkraften.
Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu vor Anhänger*innen: Fünf weitere Jahre Erdoğan würde die türkische Wirtschaft nicht verkraften.

Die Hoffnung der türkischen Opposition ist groß, bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag, Recep Tayyip Erdoğan nach 21 Jahren an der Macht ablösen zu können. Zu Recht?

Ja. Auch wenn die Prognosen mancher Umfrageinstitute interessengeleitet und deshalb mit Vorsicht zu genießen sind, liegt Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP in den Umfragen vorn. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich geändert. Bis 2019 war sie ziemlich deutlich pro Erdoğan, weil er den Wohlstand, den er versprochen hat, einlösen konnte. Doch schon 2019 hat man gemerkt, dass die Menschen wegen der wirtschaftlichen Lage unzufrieden werden. Erdoğans AKP hat daraufhin ja auch die wichtigen Bürgermeister-Posten in Istanbul und Ankara an die CHP verloren. Dieser Trend hat sich verfestigt und könnte nun am Sonntag Erdoğan und die AKP den Kopf kosten.

1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind in der Türkei wahlberechtigt. Sehen Sie diesen Umschwung unter ihnen auch?

Ja, auch hier hat sich etwas verändert. Lange haben etwa zwei Drittel der Türkeistämmigen hierzulande Erdoğan gewählt. Inzwischen liegt die Unterstützung bei etwa 60 Prozent. Das ist zwar immer noch sehr viel, aber man merkt, dass hier etwas ins Rutschen gerät. Entscheidend wird die Wahlbeteiligung sein. Das Mobilisierungspotenzial für Erdoğan und die AKP ist deutlich zurückgegangen. Am Ende könnte sie nur noch knapp vor der Opposition liegen.

CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu hat es geschafft, ein breites Oppositionsbündnis aus sechs zum Teil sehr unterschiedlichen Parteien gegen Erdoğan zu schmieden. Wird es über die Wahl hinaus halten?

Dieses Bündnis hält ja schon seit einigen Jahren, auch gegen massiven Druck von Seiten Erdoğans. Er hat es in all der Zeit nicht geschafft, die Partner auseinander zu bringen. Deshalb bin ich sehr sicher, dass sie weiter zusammenhalten werden, auch wenn sie an der Regierung sind und entsprechend Einfluss haben. Ich bin ebenfalls sehr sicher, dass das Sechserbündnis zumindest so lange halten wird, bis die Türkei zu einem parlamentarischen System zurückgekehrt ist – also das Präsidialsystem Erdogans abgeschafft hat. Die Re-Demokratisierung ist ja das erklärte Ziel des Bündnisses. Aber natürlich stehen alle Parteien auch im Wettbewerb miteinander.

Wird Erdoğan eine Niederlage denn überhaupt anerkennen?

Ich glaube, ihm wird nichts anderes übrigbleiben. Natürlich ist es auch abhängig vom Wahlergebnis. Wenn das sehr knapp ausfällt, ist die Wahrscheinlichkeit sicher höher, dass er versucht, im Nachhinein Einfluss zu nehmen. Ich glaube aber nicht, dass er groß Möglichkeiten hat, etwas zu verändern. Es gibt in der Türkei schließlich den „Hohen Wahlrat“. Dieser entscheidet über den Wahlausgang und diese Entscheidung kann auch nicht durch Gerichte angefochten werden.

Bei der Wahl des Istanbuler Bürgermeistes hat Erdoğan das nicht davon abgehalten, Einfluss auf den Hohen Wahlrat zu nehmen.

Das stimmt. Allerdings war die Ausgangslage da auch eine andere. Als im März 2019 in Istanbul gewählt wurde, war Erdoğan ja Präsident und konnte in dieser Funktion Einfluss nehmen. Um genau diese Wahl geht es ja nun am Sonntag. Da hätte er diese Möglichkeit nicht. Wenn der Hohe Wahlrat feststellt, dass er die Präsidentschaftswahl verloren hat, dann  hat er auch keine Befugnisse mehr. Klar ist aber auch: Bei einem knappen Wahlergebnis wird Erdoğan alle Register ziehen. Schon deshalb wäre es gut, wenn die Wahl sehr eindeutig zu Gunsten der Opposition ausgeht.

Was wäre von einem türkischen Präsidenten Kılıçdaroğlu zu erwarten?

Zuallererst eine Wieder-Demokratisierung der Türkei. Staatliche Institutionen werden ihre Unabhängigkeit zurückerhalten – angefangen von der Zentralbank bis hin zu den Gerichten. Im Moment steht all das unter dem Einfluss von Erdoğan: Wer nicht springt, wird versetzt oder anderweitig bestraft. Das wird mit Kılıçdaroğlu anders sein. Er wird auch die grassierende Vetternwirtschaft zurückdrehen. Künftig wird wieder die Eignung darüber entscheiden, ob jemand einen Job bekommt und nicht persönliche Kontakte. Aber auch soziale Fragen werden sich ändern. Kemal Kılıçdaroğlu hat versprochen, eine Grundsicherung einzuführen und auch Kitas kostenfrei zu machen. Die größte Herausforderung wird aber sein, die Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Fünf weitere Jahre Erdoğan würde die türkische Wirtschaft nicht verkraften.

Und was ist außenpolitisch zu erwarten?

Unter Erdoğan hat die Türkei die Beziehungen zu vielen anderen Ländern zerstört, nicht nur mit Staaten in der EU, sondern auch mit Ländern wie Saudi-Arabien, das zuletzt Importe aus der Türkei faktisch verboten hat. Das ist fatal. Die neue Regierung wird Außenpolitik nicht mehr instrumentalisieren, um auf die Innenpolitik oder die Stimmung im Land Einfluss zu nehmen. Die mittel- und langfristigen Interessen des türkischen Staates werden nicht mehr den kurzfristigen Interessen einer Partei untergeordnet. Die Türkei wird dadurch für die EU berechenbarer und gesprächsbereiter sein – auch wenn sie natürlich weiter ihre Interessen verfolgen wird.

Wird die Türkei auch ihre Brückenfunktion zwischen Europa und Asien wieder stärken einnehmen können?

Langfristig sicher. Historisch und kulturell hat die Türkei diese Funktion lange gehabt. Es gibt ja auch zahlreiche ethnische Verbindungen. Eine Türkei, die an der Seite des politischen Westens steht, würde die Einflussmöglichkeiten dieses Westens und insbesondere Europas in der gesamten Region deutlich vergrößern.

Würde sich auch das Fenster für einen EU-Beitritt der Türkei wieder öffnen?

Mittel- oder langfristig sicherlich. Es ist aber allen klar, dass die EU-Mitgliedschaft der Türkei kurzfristig nicht zur Debatte steht. Erstmal muss das Vertrauen unter einer neuen Regierung wieder wachsen.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat bei seiner Reise in die Türkei im Frühjahr betont, dass die SPD großes Interesse an engen Beziehungen zur Türkei und zur CHP hat. Was kann die SPD tun, um den Prozess der Re-Demokratisierung zu unterstützen?

Die Türkei braucht auf jeden Fall Unterstützung, wenn es tatsächlich zu einem Regierungswechsel kommt, vor allem wirtschaftlich. Es darf nicht passieren, dass das Erdoğan-Lager, die von ihm geschaffene desaströse wirtschaftliche Lage ausnutzt, um an die Macht zurückzukehren. Das System Erdoğan ist Gift für die Türkei.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare