Ein Jahr Istanbuler CHP-Bürgermeister Imamoglu: Noch ist nicht alles gut
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Hunderte von Gäste hat Ekrem Imamoglu am Dienstag ins Kongresszentrum am Goldenen Horn, Meeresarm am Bosporus, geladen, um Bilanz zu ziehen über sein erstes Jahr in Amt. Eine gigantische türkische Fahne flattert digital über die Bühne, während aus den Boxen die türkische Nationalhymne tönt. Imamoglu und das Publikum stehen stramm. Seine Partei CHP, Schwesterpartei der SPD,nennt sich sozialdemokratisch, ist aber vor allem nationalistisch-säkular geprägt. Auch an diesem Tag ist das unverkennbar.
Doch dann kommt Fahrt ins Programm: Ein rasant geschnittener Clip erinnert daran, was vor einem Jahr passierte. Imamoglu hatte im Frühjahr 2019 die Kommunalwahl in Istanbul mit hauchdünnem Vorsprung gewonnen, doch Erdogans Partei ließ die Wahl wiederholen. Sie schien nicht akzeptieren zu wollen, dass sie die 16-Millionen-Metrople Istanbul, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes nach mehr als 20 Jahren an die Opposition verloren hatten.
Doch das ging nach hinten los: Bei der Wahlwiederholung gewann Imamoglu gar mit mehr als neun Prozent Vorsprung. Millionen Regierungsgegner im ganzen Land waren tagelang im Freudentaumel. Der Clip im Instanbuler Kongresszentrum zeigt jubelnde Menschenmassen, eine Rockband singt dazu permanent Imamoglus Wahlslogan „Alles wird gut“. Doch in diesen Tagen haben die Worte einen fahlen Beigeschmack.
Über heikle Themen schweigt Imamoglu
Die Corona-Pandemie hat auch die Türkei stark getroffen, die ohnehin angeschlagene Wirtschaft steckt auch in Istanbul in einer tiefen Krise. Erdogan regiert so autoritär wie eh und je. In den letzten Tagen wurden protestierende Anwälte landesweit von der Polizei mit Tränengas zurückgedrängt. Sie marschierten gegen einen Gesetzesentwurf der Erdogan-Regierung, der den Einfluss der meist kritischen Anwaltskammern minimieren soll.
Imamoglu erwähnt die Anwälte in seiner Rede, aber über andere Menschen schweigt er. Er redet etwa nicht über die dutzenden kurdischen Bürgermeister der HDP, die in den letzten Monaten im Südosten des Landes abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt wurden. Dabei waren es auch zahlreiche HDP-Wähler*innen, die Imamoglu zum Sieg verhalfen. Doch aus Angst, in die Nähe des PKK-Terrors gerückt zu werden, schweigt Imamoglu meist über heikle Themen wie diese.
Identifikationsfigur für junge Türk*innen
Dabei hätte er seit seinem fulminanten Sieg im letzten Jahr die Macht, viele Dinge in der Türkei zu ändern. Millionen Türken bewunderten ihn dafür, wie er beharrlich und mutig nach der annullierten Wahl um sein Recht kämpfte. Er versprach ein demokratischeres grüneres, freieres Istanbul, wurde bald schon als nächster Präsidentschaftskandidat gehandelt, als den einzigen, der es mit Erdogan aufnehmen kann.
Tatsächlich spricht er breite Wählerschichten an: Imamoglu betont seine Liebe zum Staatsgründer Atatürk, beging seinen Amtsantritt jedoch mit einem Gebet. Seine Ehefrau Dilek trägt kein Kopftuch aber ein Tattoo auf dem Oberarm. Sie schreibt ihre Doktorarbeit über die politischen Erwartungen der Millenials, traf sich wiederholt mit der Ehefrau des inhaftierten EX-HDP-Chefs Demirtas. Vor allem für junge Türk*innen sind beide Identifikationsfiguren, ein Gegenbild zu den steifen Befehlsempfängern von Erdogans AKP.
Doch in diesem ersten Jahr kämpfte Imamoglu permanent mit dem Gegenwind von Erdogans Regierung. Seit seinem Amtsantritt wurde staatlichen Banken untersagt, der Istanbuler Stadtverwaltung Kredite zu gewähren. Dabei hinterließen die Vorgänger*innen einen milliardenhohen Schuldenberg. Befugnisse wurden von Istanbul nach Ankara verlegt, Erdogan-treue Mitarbeiter der Stadtverwaltung versuchen Imamoglus Arbeit zu behindern wo sie nur können, erklären Insider.
Vieles hat sich bereits verändert – oder doch nicht?
Am absurdesten zeigte sich die Strategie Erdogans in der Corona-Krise: Zusammen mit den CHP-Bürgermeistern von Ankara und Istanbul startete er eine Spendenkampagne für Bedürftige in der Corona-Krise. Ankara ließ die Kampagne verbieten, sperrte die Konten und eröffnete Ermittlungen. Erdogan hingegen startete prompt seine eigene Spendenkampagne. Wirklich einen Gefallen hat sich Erdogan mit dieser Aktion nicht getan. Denn in ihrer großen Not ist für viele Türk*innen zweitrangig, woher die Hilfe kommt – Hauptsache sie kommt. Und wer sich in Istanbul umhört, der erfährt, dass sie vor allem von der Stadtverwaltung kam.
Um ein vierfaches habe man soziale Hilfen in den letzten Monaten aufgestockt, erklärt Imamoglu am Dienstag.15 neue Kindergärten habe man eröffnet, 45 weiter sollen bis Ende des Jahres dazukommen. Viele Straßen- und Nahverkehrprojekte wurden trotz klammer Kasse wieder aufgenommen, Parks und Bildungseinrichtungen eröffnet, Student*innen finanziell unterstützt, listet Imamoglu seinem Publikum auf, wortstark wie immer. Der Frauenanteil in der Stadtverwaltung wurde verdoppelt, zu Themen wie Erdbebengefahr, Tourismus oder nachhaltigen Verkehr ließ Imamoglu Kongresse veranstalten, bei denen die unterschiedlichsten Gruppen zu Wort kamen und gemeinsam einen Fahrplan erarbeiteten.
Konkurrenz aus Ankara
Das könnte der Beginn einer neuen politischen Kultur sein. Oder aber bloß Make-up, unter dem sich nicht viel verändert hat. Ein Reporter der Hürriyet berichtete, Imamoglu habe wiederholt millionenschwere Bauprojekte ohne Ausschreibung an einen ihn nahestehenden Bauunternehmer vergeben. Imamoglu ist ursprünglich selbst Bauunternehmer, die Vorwürfe sind wohl nicht komplett aus der Luft gegriffen. Diese Praxis war unter der AKP gang und gäbe, doch Imamoglu war mit dem Versprechen angetreten, Vetternwirtschaft, Verschwendung und Korruption ein Ende zu bereiten.
In Imamoglus Schatten hat sich ein anderer aussichtsreicher Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen gemausert: Masur Yavas, CHP-Bürgermeister in Ankara und ebenfalls seit einem Jahr im Amt. Er ist ein erfahrener Kommunalpolitiker, arbeitet fleißig, uneitel und kreativ. Laut aktuellen Umfragen liegen seine Zustimmungswerte bei 73,2 Prozent, die von Imamolgu bei immerhin 57,2 Prozent.
Imamoglu muss beweisen, dass er etwas besser kann
Kurz nach Imamoglus Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag brechen heftige Regengüsse über Istanbul herein, ganze Stadtteile werden überflutet. Ein syrischer Migrant ertrinkt in seiner Kellerwohnung. Seit Jahren passieren solche Katastrophen, weil die Stadt heillos zubetoniert wurde und die Kanalisation nicht für so eine riesige Stadt ausgelegt ist.
Imamoglu eilt zu den betroffenen Orten, verspricht den Anwohnern schnelle Hilfen. „Alles sollte doch gut werden, Herr Bürgermeister, nichts ist gut!“ schreit ihm ein Mann entgegen. Eine Reporterin fragt Imamoglu, warum keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden. „Welche Maßnahmen?“ entgegnet Imamoglu ihr patzig. „Fragen Sie diejenigen, die 20, 25 Jahre lang nichts unternommen haben. Aber wir werden das Problem diesen Sommer lösen.“ Lange Zeit konnte Imamoglu seine Vorgänger für ihre Versäumnisse beschuldigen. Aber nach einem Jahr im Amt ist er allmählich selber verantwortlich – und muss Istanbul beweisen, dass er es besser kann.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.